Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 31.12.2008

„In der DDR hat es viel Anpasserei gegeben“

Der Aufbau-Ost-Beauftragte Wolfgang Tiefensee (SPD) über das Gedenkjahr 2009, Sachsens Regierungschef Stanislaw Tillich und ärmere West-Kommunen.
 
Herr Tiefensee, 2009 wird ein Jahr der Jubiläen: 20 Jahre Mauerfall, 60 Jahre Bundesrepublik. Wird das eine Endlos-Feier?

Wir können stolz und sehr froh darüber sein, dass wir Ostdeutschen im Herbst der friedlichen Revolution 1989 die Mauer eingerissen haben. Das sollten wir nicht vergessen, weil es zeigt, wozu Bürger fähig sind. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch über die Gegenwart reden. Wir werden die Jahrestage nur so feiern können, dass niemand den Eindruck bekommt, wir wollten von der aktuellen Wirklichkeit ablenken. Und es ist auch an der Zeit, darüber nachzudenken, warum seit 1989 Enttäuschungen entstanden sind, warum wir nicht überall so vorangekommen sind wie erhofft.

Aber muss sich nicht gerade Ostdeutschland bei allen Problemen ab und an auch erinnern, wo es hergekommen ist?

Richtig. Wir müssen uns die Situation von 1989 noch einmal ins Gedächtnis rufen, um zu wissen, wo wir herkommen, um die Vergleichsmaßstäbe nicht zu verlieren. Denn wir haben unglaublich viel geschafft. Und trotzdem darf sich diese Erinnerung nicht vor die akuten Probleme schieben. Leider können wir den 9. Oktober und den 9. November 2009 nicht nur unbeschwert feiern. Denn wir haben in einigen Bereichen in Ostdeutschland noch so große Probleme, dass alle Kräfte mobilisiert werden müssen, um sie zu beseitigen.

Warum wissen viele Schüler schon heute kaum noch etwas oder nichts über die DDR?

Ich war kürzlich bei einer Diskussion mit Schülern aus dem Ost- und aus dem Westteil Berlins. Ein Junge aus dem Westteil der Stadt berichtete, der Unterricht zur DDR-Geschichte sei der Befassung mit dem Zweiten Weltkrieg aus Zeitgründen zum Opfer gefallen. Am Ende hatte der Lehrer nur noch zweieinhalb Stunden für die Zeit nach 1949.

Und dann haben wir die Schüler aus dem Ostteil gefragt, wer in den Elternhäusern über die DDR-Geschichte spricht. Nur drei von 30 haben sich gemeldet. Ansonsten Schweigen im Walde. Ich bin darüber alles andere als glücklich.

Und was kann der Beauftragte für den Osten dagegen tun?

Ich appelliere an die Länder-Kultusminister, der DDR-Geschichte in den Lehrplänen mehr Platz und mehr Zeit einzuräumen. Und ich appelliere an die Lehrer: Fahrt mit den Schülern zu den Orten des Geschehens, damit die Geschichte lebendig wird. Und holt euch Zeitzeugen, die das Vergangene erlebbar machen.

Da gäbe es doch beim Gedenken an den Mauerfall viel Gelegenheit, oder?

Ich wünsche mir nicht nur staatstragende Feierlichkeiten, sondern vielmehr, dass sich Menschen begegnen und miteinander reden. Ich möchte, dass nicht Funktionäre, sondern diejenigen sprechen, die unter der DDR gelitten haben, genauso wie die, die sich darin wohlgefühlt haben.

Ich möchte, dass diejenigen, die um den Ring in Leipzig gezogen sind, die in Plauen, in Dresden, wo auch immer auf die Straße gegangen sind, eingeladen werden und dass man über das Erlebte spricht. Das sind Lebensgeschichten, die in die deutsche Geschichte eingeflossen sind. Andererseits möchte ich gern den Bogen in die Gegenwart schlagen.

Ist die Debatte um Sachsens CDU-Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich nicht eher ein abschreckendes Beispiel?

Natürlich hat es in der DDR viel Mitläufertum und Anpasserei gegeben. Die spannende Frage ist, wie man heute mit seiner eigenen Geschichte umgeht. Niemand braucht sich zu verstecken. Wir kommen alle aus individuellen, oft nicht selbst gewählten Verhältnissen. Der eine wird wie ich hineingeboren in ein widerständiges Umfeld. Der andere wächst in einer linientreuen SED-Familie auf. Es geht darum, sich damit heute auseinanderzusetzen, zu seinem Lebenslauf zu stehen, ohne ihn zu verklären oder gar umzubiegen.

Hat Herr Tillich nicht ausreichend erklärt?

Herr Tillich hat erst spät zugegeben, dass er im DDR-Staatsapparat in Führungspositionen mitmachen wollte. Wer im März 1989 Partei-Lehrgänge macht und einen solchen Posten in der Staatsmacht annimmt, der sah dort Aufstiegschancen. Wer sich da herummogelt, hat ein Problem.

Hat sich die CDU jetzt intensiv genug mit ihrer Ost-Vergangenheit beschäftigt?

Nein, das ist eine nie abgeschlossene Aufgabe. Man kann dieses Kapitel nicht einfach zuklappen. Das Gleiche gilt übrigens für die Linke und auch für die FDP.

Ist es angesichts der absehbar schwierigen näheren Zukunft sinnvoll, eine neue Ost-West-Debatte anzuzetteln?

Absolut nicht und ich ärgere mich darüber. Wir brauchen jetzt wirklich keine Ost-West-Debatte.

Sie selbst hatten doch vor Wochen von ärmeren West-Kommunen gesprochen ...

Ich habe nie von einem Solidarpakt West gesprochen, sondern Selbstverständliches angeregt: Die Bundesregierung sollte im Rahmen ihrer Zuständigkeit und mit den Ländern auch ärmere Kommunen in den westlichen Bundesländern unterstützen. Das tun wir seit Jahren unter anderem mit unserem „Ost-Exportschlager“, dem Programm Stadtumbau. Das wird 2009 für den Westen um 18 Millionen auf 76 Millionen Euro aufgestockt.

Wie hoch ist der Nachholbedarf für die Infrastruktur im Osten?

Wir verfügen bis 2019 mit dem Solidarpakt II über 156 Milliarden Euro. Die investieren wir in Infrastruktur, Wirtschaftsförderung, in Forschung und Stadtentwicklung. Bis 2020 müssen möglichst viele Regionen im Osten mindestens Anschluss an die ärmsten Bundesländer des Westens geschafft haben. Das ist ein Vertrag, der schlicht und einfach einzuhalten ist.

Gespräch: Peter Heimann

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: