Sächsische Zeitung, 23.01.2009
Über die Ursachen der Krise diskutiert in diesem Land niemand
Niemand hat die Krise vorausgesehen. Die, die sie angerichtet und bis zuletzt schöngeredet haben, sitzen wie eh und je in den Fernseh-Talkshows beisammen und machen besorgte Gesichter.
Nun sei die Politik gefragt, sagen sie, kraftvolles Handeln der Regierung, um das Schlimmste zu verhüten… Und keiner fragt nach, wer von den Anwesenden mit seinem geballten Sachverstand wie viel zum Desaster beigetragen hat.
Ein Waterloo kritischer Publizistik auch der Jahresrückblick der ARD zwei Tage vor Silvester. Groß im Bild Herr Ackermann von der Deutschen Bank, wie er mit Frau Miosga von den Tagesthemen unter den Linden in Berlin spaziert und über Krise und Krisenmanagement plaudert. Nein, auch er habe diese Krise nicht vorausgesehen, niemand habe sie vorausgesehen. Ein Blitz aus heiterem Himmel sozusagen. Ob er sich eventuell bei den Sparern, den Anlegern, den steuerzahlenden Bürgern entschuldigen möchte, fragt Frau Miosga tapfer.
Nein, das möchte er nicht, antwortet Herr Ackermann, denn anders als in den USA, wo bekanntlich alles angefangen, wo dieser Madoff mit seinem Schneeballsystem die Anleger bewusst hinters Licht geführt habe, habe es bei uns in Deutschland kein schuldhaftes Verhalten gegeben, wofür man sich zu entschuldigen hätte. Die Folgen allerdings, die müssten alle tragen, auch er, Ackermann: Schließlich verdiene er in diesem Jahr nur noch knapp zwei Millionen Euro. Keine guten Nachrichten, seufzt Herr Ackermann, aber er lächelt, lächelt wie nur Eingeweihte lächeln, die zu den geheimsten Quellen der Weisheit Zugang haben.
Die Wirtschaft tritt das Erbe des Staates an – genau das ist es, was man uns seit den 80er-Jahren weismachen wollte. Der Markt wird es schon richten, wenn sich die Politik nur raushält. Gab es tatsächlich keinen Widerspruch? Hat tatsächlich niemand den Einsturz des Kartenhauses vorausgesehen?
Ich kenne einige, die gewarnt haben, die mit guten Argumenten zu belegen wussten, dass das nicht mehr lange gutgehen könne mit dem Casino-Kapitalismus, dem gigantischen Schwindel mit all den neuen Finanzprodukten, dem marktradikalen Treiben, das uns als quasi naturgesetzlicher Prozess unter dem Namen der Globalisierung verkauft wurde. Kluge Leute waren darunter, wie Nobelpreisträger Paul Krugman oder wie Helmut Schmidt.
Karl Marx, im Osten missbraucht, im Westen geschmäht, hatte als einer der Ersten die inhärente Krisenhaftigkeit des ungezügelten Kapitalismus beschrieben. Sozialdemokraten zogen einst aus seinen Analysen den Schluss, dass die Kräfte des Marktes politisch gezähmt werden müssten, dass der Logik des Kapitals die alternative Logik des Sozialstaats entgegengesetzt werden müsse, dass eine zivile und halbwegs gerechte Gesellschaft ohne einen funktionierenden öffentlichen Sektor nicht zu haben sei, dass aus diesen Gründen die Politik Vorrang vor der Wirtschaft haben müsse.
Aber die falsche Alternative entweder SU-Sozialismus oder US-Kapitalismus wurde nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme auf einmal neu belebt. In dem Moment, als die Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Musters historisch endgültig widerlegt war, als wir uns anschickten, ins 21. Jahrhundert einzutreten, triumphierten noch einmal jene marktradikalen Phantasmen, die bereits im 19. Jahrhundert ad absurdum geführt worden waren.
Alles Heil wurde nun wieder von der unsichtbaren Hand des Marktes erwartet, der Sozialstaat wurde diffamiert und demontiert, öffentliche Einrichtungen wurden im großen Stil privatisiert, Maßlosigkeit und Gier zu Kardinaltugenden dynamischer Wirtschaftsbosse erklärt: im Namen des Fortschritts, im Namen von Effizienz, Beschleunigung, Innovation.
Kaum war der alte Totalitarismus des Staates im Osten überwunden, erhob im Westen ein neuer sein Haupt: der Totalitarismus der Ökonomie. Aber was konnten Warnungen schon ausrichten, wenn in allen Medien die Zauberlehrlinge zu Weltweisen aufgeblasen wurden, wenn in jeder Talkrunde die Herren Ackermann, Merz, Westerwelle, Sinn etc. das große Wort führten und sogar führende Sozialdemokraten der zeitgeistigen Torheit Tribut zollten?
Nun ist es also passiert, seit am 15. September 2008 die Wall Street kapitulierte, ist der Schlamassel unübersehbar, und wir blicken mit wachsender Sorge ins soeben angebrochene neue Jahr. Was wird uns 2009 bringen? Die Finanzkrise, so viel ist sicher, weitet sich zur Krise der Realwirtschaft aus. Wie sich das auf den Arbeitsmarkt auswirkt, weiß noch niemand genau zu sagen. Dass viele Menschen, die gerade wieder ein wenig Hoffnung geschöpft hatten, nun wieder ihren Arbeitsplatz verlieren werden, ist so gut wie sicher.
Und es gibt die große Zahl der Zeitarbeiter, die man auf elegantere Weise loswerden kann. Und Kurzarbeit. Und die Verschiebung längst ausgehandelter Lohnerhöhungen. Und den staatlichen Unterstützungsfonds… Und was kommt, wenn die Binnennachfrage weiter absinkt und die Exporte noch weiter einbrechen, weil um uns herum überall Krise herrscht?
Die Folgen, sagt Herr Ackermann, müssen wir alle tragen. Die Investmentbanker, die Anlageberater, die Chefs und Aufsichtsräte der großen Bankhäuser, sie alle haben nur ihren Job, haben nichts falsch gemacht. Was, wenn er recht hätte? Hieße das nicht, dass etwas am System nicht stimmt?
Wir wissen nur eins: Wenn jetzt in Frankfurt, München und Düsseldorf die Bürotürme wackeln, so ist das jedenfalls unser aller Problem. Aus unseren Steuergeldern müssen die Milliarden bereitgestellt werden, weil wir uns einen Zusammenbruch der Finanzwirtschaft nicht leisten können, weil der Zusammenbruch der Finanzwirtschaft eine noch viel schlimmere Krise zur Folge hätte, deren Folgen selbstverständlich wir ausbaden müssten.
Die Zeiten, da ein Spekulant, der sich verzockt hatte, sich noch auf dem Börsenparkett die Pistole an die Schläfe setzte, sind längst vorbei. Heute übernimmt der Staat in solchen Fällen die Verantwortung, um seine Bürger vor dem Schlimmsten zu bewahren. Der Staat, von dem die Herren Ackermann, Merz, Westerwelle, Sinn etc. noch vor Kurzem lauthals forderten, er solle sich aus der Wirtschaft heraushalten, ist, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, als Retter willkommen.
Natürlich. Kein verantwortlicher Politiker kann gelassen zusehen, wie die Finanzwirtschaft vor die Hunde geht, die Pleiten sich häufen, immer mehr Menschen arbeitslos werden. Natürlich muss der Finanzminister in einer solchen Situation seine ehrgeizigen Pläne zur Haushaltssanierung aufgeben und Milliardenpakete schnüren, damit die Krise sich nicht zum großen Crash auswächst. Natürlich müssen die Gewerkschaften nun wieder Lohnzurückhaltung üben. Und natürlich kann nun eine von der Union geführte Große Koalition sogar die Teilverstaatlichung der Commerzbank beschließen. Nur nennen sollte man sie möglichst nicht so.
Es ist keineswegs sicher, dass die, die die Katastrophe angerichtet haben, und die, die tatenlos zusahen, wie sie sich entwickelte, etwas aus der Krise lernen. Wir müßten sie schon dazu zwingen. Im Superwahljahr 2009 mit fünf Landtagswahlen, einer Bundestags- und einer Europawahl und Kommunalwahlen in acht Bundesländern hätten wir Gelegenheit dazu. Wir könnten jenen das Mandat entziehen, die die Schwächung des Staates und die Privatisierung aller öffentlichen Einrichtungen betrieben, die von Kontrolle nichts wissen und nur den Markt walten lassen wollten, die die Heuschrecken unter Artenschutz stellten und die hemmungslosen Absahner in den Vorstandsetagen als die eigentlichen Leistungsträgern im Lande priesen, die auch heute noch am liebsten bei den Rentnern, Kranken und Arbeitslosen sparen.
Aber wo bleibt in diesem Land die öffentliche Diskussion über die Ursachen des Debakels? Wo bleibt der politische Streit über die dringend erforderlichen Strukturreformen, die neu zu schaffenden Institutionen, die internationalen Vereinbarungen, die verhindern könnten, dass sich wiederholt, was wir zur Zeit erleben? Wo ist die politische Initiative zur Zähmung eines außer Kontrolle geratenen Kapitalismus und zur Regulierung der Finanzwirtschaft?
Wo wird in Deutschland darüber diskutiert, dass die Wirtschaft den Menschen zu dienen hat und dass es dazu eines demokratischen Staates bedarf, der Regeln setzt und ihre Befolgung erzwingt, dass Europa mehr sein muß als ein freier Markt, dass wir ein soziales und demokratisch handlungsfähiges Europa brauchen und strenge europaweit gültige Maßstäbe für ökologisches Wirtschaften?
Die Chancen der Krise – auch diese Floskel geht vielen allzu leicht von den Lippen. Wenn wir sie tatsächlich nutzen wollen, müssen wir jetzt über Strukturveränderungen reden. In den Parteien, in den Gewerkschaften, in den Kirchen, in Hochschulseminaren und auf internationalen Konferenzen, am Arbeitsplatz, am Stammtisch und auf den Marktplätzen.
Denn im Kern geht es hier nicht um Expertenfragen, sondern um die Frage, wie, nach welchen Regeln, wir in Zukunft zusammen leben wollen. Und diese Frage geht in einer Demokratie alle an.
Aber immer mehr Deutschen ist offenbar die Lust an der Demokratie vergangen. Mittlerweile sind es mehr als die Hälfte, die ausweislich des ARD-Deutschlandtrends mit der Demokratie als Regierungsform unzufrieden sind. Weil sie feststellen, daß es in diesem Land nicht gerecht zugeht.
Natürlich haben sie recht: Es gibt in diesem Land skandalöse Ungerechtigkeiten. Aber wieso kommen sie nicht auf die Idee, dass sie selbst dafür sorgen müssen, dass sich das ändert, dass sie sich einmischen, von ihren demokratischen Rechten Gebrauch machen müssen, statt sich beleidigt abzuwenden?
Von Johano Strasser
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Der Text ist ein Auszug aus einer Rede, die der Autor vor dem DGB Sachsen gehalten hat.