spiegel.online, 02.04.2009
PREKARIAT-STUDIE: Fatale Furcht ergreift die ewigen Verlierer
Volksparteien: "nicht mehr die Schutzmächte der "kleinen Leute", als die sie ursprünglich Stimmen gesammelt hatten."
Wut und Frustration wachsen im unteren Drittel der deutschen Gesellschaft - die sogenannten kleinen Leute verlieren jede Zukunftszuversicht: Zu diesem Schluss kommt eine neue Studie. Mit Begriffen wie Chance können die Abgehängten nichts anfangen, ihre Verbitterung über die Parteien wächst.
Im Herbst 2006 machte ein Begriff aus der Soziologie jäh Karriere: Prekariat. Durch eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert Stiftung geriet für einige Wochen die Schicht ganz unten in der sozialen Hierarchie ins Visier der Öffentlichkeit. Aber die Debatte verebbte so schnell wie sie zuvor aufgekommen war. Hernach war vorwiegend die Abstiegsangst der gesellschaftlichen Mitte ein Thema von Politik und Publizistik. So ist es auch und gerade in der Krise des Finanzkapitalismus geblieben.
Nun haben sich Heidelberger Lebensweltforscher und Göttinger Politologen vor einigen Wochen wieder in die Milieus des unteren Drittels der deutschen Gesellschaft begeben. Erfreuliche Nachrichten sind von dort - natürlich - nicht zu vermelden. Die Wut, aber mehr noch: Frustration und Resignation sind in den vergangenen drei Jahren weiter gewachsen.
Die Zeiten eines hochqualifizierten, selbstbewussten, gar klassenkämpferischen "Proletariats" sind offensichtlich auf immer vorbei. Die Menschen im unteren Drittel sind mutlos, keineswegs zukunftsgewiss, sondern voller Furcht vor dem, was noch kommen mag.
Die "kleinen Leute" im mittleren oder höheren Alter sind konservativ in dem Sinne, dass ihr Fluchtpunkt stets die Verhältnisse von "früher" sind. "Früher" - da galten sie und ihre Fähigkeiten noch was. Früher, da kam man auch mit einem ordentlichen Volksschul- oder Realschulabschluss weiter. "Heute muss man doch mindestens Abitur haben, sonst brauchst Du Dich gar nicht erst vorzustellen" - lautete die immerwährende Klage der Menschen in prekären Lebensverhältnissen.
Mit dem Begriff der "Chance" können sie nichts anfangen. Auf die Formel "Chance durch Bildung" reagieren sie gar wütend. Jeder oder jede von ihnen, der/die - sagen wir - über 16 Jahre ist, erfasst ganz realistisch, dass die Chancen-Bildungs-Gesellschaft für ihn oder sie bedeutet, in den nächsten Jahrzehnten ohne Aussichten, ohne Ansehen, erst recht ohne Möglichkeiten des Weiterkommens zu bleiben. Denn Bildung war ja der Selektionshebel, der sie in die Chancenlosigkeit hineinsortiert hatte. Bildung bedeutet für sie infolgedessen das Erlebnis des Scheiterns, des Nicht-Mithalten-Könnens, der Fremdbestimmung durch andere, die mehr gelesen haben, besser reden können, gebildeter aufzutreten vermögen.
Signifikant ist die dominante Fortschrittsangst
Mehr Bildungschancen mag ein Rezept für ihre ganz kleinen oder noch nicht geborenen Kinder sein - aber selbst daran glauben sie nicht. Für sie selbst heißt die Konzentration staatlicher Anstrengungen auf Bildung statt sozialer Transfers die Verfestigung von sozialer Labilität, ja Marginalität. Ganz illusionslos sehen sie, dass es für sie nicht eine einzige plausible Idee für ein sozial gesichertes und respektables Leben in den nächsten Jahrzehnten gibt. Daher klammern sie sich stärker als alle anderen Gruppen an den Staat. Zugleich aber beschweren sie sich bitter über die Bürokratie, mit der sie bei ihren täglichen Behördengängen zu tun bekommen, von der sie sich gegängelt, überwacht, schikaniert fühlen.
Signifikant ist die dominante Fortschrittsangst. Der Fortschritt bedeutet Bedrohung, übt einen permanenten Druck aus, den man nicht zu bewältigen vermag, der hilflos und klein macht, der die eigene Entbehrlichkeit und Nutzlosigkeit grell ausleuchtet. Auch hier ist der pessimistische Fatalismus spürbar, das allgegenwärtige Gefühl, die Dinge nicht mehr in der Hand zu haben, erst recht nicht steuern zu können, weshalb sich gerade die überforderten Unterschichten in ihre Refugien von Couch und Fernsehzimmer zurückziehen, um ihre Hilflosigkeit nicht noch öffentlich preisgeben und sich der Lächerlichkeit aussetzen zu müssen.
Bezeichnend an der Selbstinterpretation der unteren Schichten ist, dass sie die schlimmste Zeit, die fatalsten Brüche in ihrer Lebensgeschichte, in den achtziger und neunziger Jahren verorten, als nicht nur die schon zuvor existente Arbeitslosigkeit drückte, sondern als überdies die neuen Medien, die neuen Technologien, die deutsche Einheit, die neue Währung, die neuen Ansprüche im Geschlechter- und Familienverhältnis, die Appelle zur fortwährenden Bildung ihnen auf den verschiedensten Ebenen zusetzten. Mit einem Problem fertig zu werden, hätte ihnen noch gelingen mögen. Doch nun bündelten sich die Wandlungen und Zumutungen auf allen Seiten der Alltagsbewältigung.
Auch der Staat besitzt eine beschränkte Leistungsfähigkeit
Der Soziologe Rainer M. Lepsius hat in anderer Angelegenheit darauf hingewiesen, dass Nationen kaum dazu in der Lage sind, mit sich überlappenden Basisproblemen, die sämtlich zeitgleich auftreten, auf zivile Weise fertig zu werden.
Auch ein gut funktionierendes System kann in der Regel jeweils nur ein Großproblem konstruktiv lösen, denn jede Organisation - eben auch der Staat - besitzt eine beschränkte Leistungsfähigkeit. Für die mit kulturellen Ressourcen minderausgestatteten Unten-Milieus gilt das erst recht.
Das Können älterer Menschen verlor irgendwann an Wert
Politiker bilden für diese Gruppen eine hermetisch abgeschlossene Kaste, die vom Volk nichts weiß, die quasi hinter Mauern lebt und sich auf Kosten des Steuerzahlers mit teuren Delikatessen ein angenehmes Leben macht. Bemerkenswert allerdings ist, dass viele aus den vernachlässigten sozialen Souterrains, die schon einmal einen Politiker "live" begegnet sind, diesen - aber eben nur diesen - als "sympathisch", "normal geblieben", "verständnisvoll" empfanden. Ansonsten sind es bestenfalls Politiker wie Merz, Clement, mitunter auch Westerwelle, denen Lob zuteil wird, weil sie sich nicht "verbiegen" lassen, "echt" und "ehrlich" agieren, die Dinge "aussprechen", wie sie sind. Nun verkörpern diese drei Politiker bekanntlich nicht die staatliche Schutzmacht der kleinen Leute. Die Bruce-Willis-Haltung also scheint zugkräftiger als die wackere Sozialstaatlichkeit etwa der Schreiners oder Blüms.
Bezeichnend ist, dass man in den jüngeren Teilen des "neuen Unten" überhaupt nur noch den politischen Typus akzeptiert, der mit Geradlinigkeit verbunden wird, die politische Spezies des "lonesome cowboys" gleichsam, der sich auch durch Abstrafungsaktionen oder gar Ausschlussandrohungen von oben nicht einschüchtern lässt.
Es ist der Typus des harten Mannes, der ohne Schleimereien und ohne Parteipatronage "seinen Weg geht", "für etwas steht", seiner Sache "nicht untreu" wird. Darin spiegelt sich nicht nur das in der Tat große Bedürfnis nach Politikern, die wirklich machen, was sie sagen. Die einen also nicht - wie so viele andere im bisherigen Leben - enttäuschen, betrügen oder verraten, sondern die Hoffnungen aufrechterhalten, dass man es doch schaffen kann: mit Trotz und Eigensinn.
Bedrückend ist die Bilanz, die von älteren Menschen der "kleine-Leute-Milieus" gezogen wird. Sie haben in der Regel hart gearbeitet, waren sparsam und nachhaltig. Sie haben Kinder in die Welt gesetzt und versucht, aus ihnen ordentliche Menschen zu machen. Sie haben rechtschaffen und fleißig gelebt.
Aber irgendwann vor rund 20 Jahren verloren ihre einfachen Bildungsabschlüsse, ihre manuellen beruflichen Fertigkeiten und ihre traditionell geprägten biografischen Erfahrungen an Wert, jedenfalls im Ansehen derjenigen, die gesellschaftlich jetzt den Ton angaben und seither dominant definierten, was als "Leistung" zu gelten habe und was nicht.
Das Leben und die Arbeit der früheren Schreiner, Tischler, Bergarbeiter, Hausfrauen und Näherinnen wurde so aus der "Leistungsgesellschaft" der postindustriellen Eliten verbannt. Seither ist an der früheren, alt gewordenen Basis der arbeitsamen Industriegesellschaft eine Verbitterung zurückgeblieben, die auch die Erosion der Volksparteien in Teilen erklärt. Denn diese waren nicht mehr die Schutzmächte der "kleinen Leute", als die sie ursprünglich Stimmen gesammelt hatten.
Von Franz Walter