Karl Nolle, MdL

DIE ZEIT, Nr. 26, 18.06.2009, S. 5, 18.06.2009

Die Roten sind wir

Fördern und fordern — das war ein sozialdemokratisches Prinzip für den Umgang mit Arbeitslosen. - Heute, sagt der SPD-Vorsitzende Franz Muntefering, komme es darauf an, den Staat zu fordern.
 
DIE ZEIT: Herr Müntefering, in seiner Parteitagsrede hat Frank-Walter Steinmeier die SPD auch als die Partei der Neuen Mitte präsentiert. Warum hat man den Begriff so lang nicht gehört?

FRANZ MONTEFERING: Wir waren und sind uns bewusst, dass wir alle drei Aspekte abdecken müssen: ökonomisch erfolgreich, ökologisch vernünftig, sozial stabil und gerecht. Das muss beieinander sein, sonst kann man keine Politik für die Mehrheit machen. Wir decken die ganze Breite des Spielfelds ab. Dazu gehört, Antworten zu geben, sowohl für die Wähler der Linken als auch für die Wählerschaft, die Rüttgers in Nordrhein-Westfalen sucht. Die Flanke zur Linken hin ist jetzt dicht. Die haben keine Chance, glaubwürdig aufzusatteln. Aber wir sprechen auch die Mitte an.

ZEIT: Steht »Neue Mitte« für eine Kurskorrektur?

MUNTEFERING: Nein. Wir standen und stehen zur Gesamtverantwortung, sozial und demokratisch — das ist unsere Linie. Wir engagieren uns deshalb auch dafür, dass Unternehmen in Deutschland erfolgreich sein können. Deshalb müssen wir sie schützen vor Bankern und Geldgebern, die allein egoistische Ziele verfolgen. Zur Bandbreite sozialdemokratischer Politik gehören auch die neuen Finanzregeln. Kurzum, unsere Linie ist klar: der Kampf um und für Arbeitsplätze.

ZEIT: Gibt es einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen der Reformagenda Schröders und der Krisenbewältigungspolitik von heute?

MUNTEFERING: Mit Gerhard Schröder haben wir stark auf Arbeit gesetzt. Das ist damals nicht allen bewusst geworden. Mit der Agenda 2010 haben wir die ökologische Modernisierung der Industriegesellschaft verbunden, mit Arbeit für das Handwerk, mit Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen. Und wir haben die Zumutbarkeit für Arbeit verstärkt. Manche haben das als Verschärfung empfunden. Es ging aber darum, den Menschen eine Chance zu geben, in Arbeit zu kommen — statt sie weiter in Passivität zu lassen. Diese Idee haben wir jetzt in aie neutige zeit transportiert. Es ist sehr viel besser, alles dafür zu tun, dass die Menschen in Arbeit bleiben und kommen, als später die Sozialtransfers zu erhöhen, um das Land zu stabilisieren. Keiner auf die Straße! Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren! Das gilt heute wie damals.

ZEIT: Damals haben Sie den Leuten Veränderungen abgefordert, heute stellen Sie Garantien aus. MONTEFERING: Das halte ich für ein Missverständnis. Wir stecken seit Langem viel Geld in die Landwirtschaft und in den Aufbau Ost. Was machen wir beim Bergbau und den Werften? Die ökologische Modernisierung unserer Gebäude fördern wir, weil das gut für die Umwelt ist. Aber auch weil es Arbeitsplätze bringt. Es ist immer derselbe Antrieb: die vernünftige, gute Arbeit in diesem Lande sichern und mobilisieren.

ZEIT: Die SPD beansprucht für sich, mit der Agenda-Politik einen Mentalitätswandel bewirkt zu haben: Die Deutschen haben gelernt, dass sich der Staat nicht überfordern darf. Vielleicht ist deshalb die Rettungspolitik nicht populär?

MUNTEFERING: Nein. Die Stunde der Wahrheit für diese Politik kommt bei der Bundestagswahl. Dann wird die Solidarität im Lande reichen, um zu wissen: Das Ganze kann nur funktionieren, wenn wir uns in Not gegenseitig helfen. Zur sozialen Marktwirtschaft gehört, dass die Politik nicht zusieht, wie Arbeitsplätze unnötigerweise verloren gehen. Die Menschen wollen nicht, dass sich der Staat dann aus allem raushält. Also: den Staat nicht überfordern, ihn aber auch nicht aus der Verantwortung entlassen. Ihn auch fordern.

ZEIT: Kommt es nicht stark auf Differenzierung an: Der Staat muss verantwortlich prüfen, was er tun kann, aber er darf die Rettung von Arbeitsplätzen nicht zum einzigen Prinzip erheben?

MUNTEFERING: Nicht zum einzigen, nein, aber zu einem wichtigen. Es gibt eine feine Grenze. Die kam am 4. März im Koalitionsausschuss auf den Tisch. Damals hat uns der Wirtschaftsminister in einer Viertelstunde erklärt, was vermeintlich ordnungspolitisch alles dagegen spricht, Opel zu retten. Frank-Walter Steinmeier und wir anderen haben trotzdem gesagt: Wir schmeißen das Herz über die Hürde. Die Frage ist nicht, was General Motors alles falsch gemacht hat, wie komplex der Vorgang ist, sondern: Welche Bedingungen sind zu erfüllen, damit moderne Industriestruktur und Arbeitsplätze erhalten bleiben? Nicht wir haben ideologisch agiert, sondern die anderen.

ZEIT: Aber Sie waren derjenige, der Opel für systemisch erklärt hat. Ergo: Man muss retten, unabhängig von der Perspektive.

MÜNTEFERING: Wir machen uns nicht zu eigen, wie Wirtschaftswissenschaftler »systemisch« definieren. Es geht um Arbeit statt Arbeitslosigkeit und um innovative Industriestrukturen. Ich habe davon gesprochen, dass an den Standorten vier große Krater gerissen würden. Nicht 28 000, 150 000 Menschen würden ihre Arbeit verlieren. Was glauben Sie, was dann in der Republik los wäre! Produktion aufzugeben, ohne eine Perspektive, wie man sie in besseren Zeiten wiederbeleben könnte, ist leichtfertig, nicht zu verantworten. Britische Kollegen haben uns lange gesagt: Was macht ihr euch denn noch die Hände dreckig, wir verdienen das Geld in den Finanzhochhäusern. Irgendwann haben wir gemerkt: Da sitzen mehr Nieten als in der Lostrommel auf der Kirmes. Es ist gut, dass Deutschland Industriearbeitsplätze wie die bei Opel hat. Und deshalb müssen wir sie sichern, für die Arbeitnehmer und für die Zukunft unseres Landes.

ZEIT: In der Krise machen sich in der Gesellschaft zwei Ängste breit: die Angst vor Arbeitsplatzverlusten und die Angst, dass sich der Staat überfordert. Bei der Union deckt Merkel die erste Angst ab, zu Guttenberg die zweite. Haben CDU und CSU die bessere Strategie?

MÜNTEFERING: Diese doppelte Position ist nicht glaubwürdig und beschädigt die Handlungsfähigkeit der Regierung. Wenn die Kanzlerin erst sagt, das ist nötig, dann aber den Guttenberg als tollen Kerl lobt, ist das unehrlich. Man kann nicht gleichzeitig für und gegen etwas sein. Dies beeinträchtigt das Vertrauen in Politik.

ZEIT: Herr Steinmeier und Sie selbst haben zuletzt die Kanzlerin und den Wirtschaftsminister heftig kritisiert. Ist es denn klug, auf die derzeit beliebtesten Politiker einzuprügeln?

MONTEFERING: Man muss die Dinge ehrlich benennen. Da kann man nicht immer messen, wie viele Leute das gerade nett finden. Was da stattgefunden hat, war kein Vertrauensgewinn für Frau Merkel. Letztlich wird ihr das nichts nutzen, denn die Menschen lassen sich nicht veräppeln.

ZEIT: Sie haben neulich formuliert: Es gibt kein Schwarz; Schwarz ist nur ein sehr dunkles Rot. Das heißt, die Kanzlerin ist Sozialdemokratin?

MÜNTEFERING: Nein, ich habe damit gesagt, dass sich die Sozialdemokratie mit der roten Farbe verbindet. Und dass Rot gut ist. Das ist seit 146 Jahren so. Andere sind nachgekommen, die die rote Farbe auch für sich in Anspruch genommen haben; wir waren da aber schon längst auf der Welt. Wenn man also versucht, mit einer anderen Farbe zu hantieren, muss man wissen: Wer das Soziale und das Demokratische will, der bekommt es bei den Roten. Bei uns.

ZEIT: Aber möglicherweise nehmen die Leute einfach wahr, dass die Kanzlerin auch eine soziale und demokratische Politik vertritt.

MONTEFERING: Dieses Land ist in den 27 Jahren, in denen die Sozialdemokraten regiert haben, erheblich von uns geprägt worden. Auch in dieser Regierung, der Großen Koalition, sind die Roten hochwirksam. Eine breite Mehrheit in Deutschland findet es gut, dass die Sozialdemokraten mitregieren. Der Streit geht nur um das Kanzleramt; manche wollen, dass die SPD regiert, und manche wollen, dass die SPD mitregiert. Marktradikale wollen die allerwenigsten. Das bekämen sie mit dem Duo Merkel/Westerwelle. Und deshalb haben wir die Chance, die Bundestagswahl zu gewinnen.

ZEIT: Die SPD zeichnet Angela Merkel als Chamäleon, das an der Seite der FDP marktradikal wird. Wie soll das funktionieren, wenn die Leute die Kanzlerin als gemäßigte Sozialdemokratin erleben?

MONTEFERING: Wahlen sind ein komplizierter Vorgang. Es gibt die Personalentscheidung Steinmeier/Merkel. Aber daneben gibt es die Entscheidung zugunsten einer Partei. In beidem sind wir klarer und eindeutiger. Die Kanzlerin ist nicht die ideale Wahlkämpferin, weil sie kommunikativ nicht überzeugt. Sie agiert momentan noch aus der Rolle der Geschäftsführerin der Bundesregierung und mit präsidialer Attitüde. Wenn es zum Duell Steinmeier — Merkel kommt, ist das vorbei. Ein Frank-Walter Steinmeier wie auf dem Parteitag — weshalb sollen wir vor Frau Merkel Angst haben?

ZEIT: »Die Ideologie, die die Krise verursacht hat, darf nicht die Antwort auf die Krise sein.« Für diesen Satz hat Steinmeier in Berlin den größten Beifall erhalten. Kennt die SPD die Antwort?

MÜNTEFERING: Entscheidend ist: Schafft es die Menschheit, eine derart globalisierte Welt, in der die Börse nie mehr zu ist, in der in Sekundenschnelle Geld rund um die Welt geschickt wird, in der das internationale Kapital keine nationalen Arbeitnehmerrechte kennt, in eine vernünftige Ordnung zu bringen? Nehmen wir das offensiv an, kämpfen wir um den Primat der Politik? Die Sozialdemokratie tut es. Die Konservativen, Marktradikalen nicht. Wenn wir das international nicht in den Griff bekommen, wenn die Nationalstaaten miteinander keine global wirksamen Regeln finden, dann sagen uns die Menschen: Wofür brauchen wir dann die Politik, wofür die Demokratie? Wir wollen sie. Unbedingt.

ZEIT: Bei der internationalen Regulierung gibt es doch großkoalitionären Konsens. Bei G 20 ziehen Kanzlerin und Finanzminister an einem Strang.

MÜNTEFERING: Was ich sehe, ist: In Sonntagsreden wird von Frau Merkel vieles für gut befunden — und dann wenig dafür getan. Also: Sobald das Land nicht mehr unter Wasser steht, werden wieder die Versuche losgehen, möglichst wenig an den Finanzmärkten zu regulieren. Frau Merkel hat angekündigt, wenn die Krise überstanden ist, werde sie zu dem zurückkehren, was war. Die CDU will also substanziell nichts besser machen. Sie spürt, es schmerzt — und trägt weiße Salbe auf. Das reicht aber nicht.

DIE FRAGEN STELLTEN PETER DAUSEND UND MATTHIAS GEIS

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: