Karl Nolle, MdL

DIE WELT, Seite 4, 24.06.2009

Enteignung war selbst nach DDR-Gesetz ein Willkürakt

Sachsens Regierungschef Tillich gerät wegen Mitwirkung an Verwaltungsakt nach dem Mauerfall weiter in Bedrängnis
 
BERLIN - Sachsens Ministerpräsiient Stanislaw Tillich (CDU) gerät in der sogenannten Enteignungsaf(Ure weiter in Erklärungsnot. Wie diese Zeitung berichtete, hatte der Politiker als DDR-Staatsfunktionär noch vier Wochen nach dem Fall der Mauer daran mitgewirkt, ein Einfamilienhaus im sächsischen Kamenz in Volkseigentum zu überführen. Eigentümer der Immobilie in erstklassiger Lage war bis dahin eine bereits 1947 nach Süddeutschland geflüchtete Familie.

Der WELT sind jetzt brisante Dokumente zu dem Fall übermittelt worden. Daraus ergibt sich: Die von Tillich mit herbeigeführte Enteignung war selbst nach den Gesetzen der DDR rechtswidrig und stellte einen Willkürakt dar. So liegt dieser Zeitung die „Entscheidung über die Rückübertragung" des Einfamilientauses vor, erlassen vom Landratsrat Kamenz am 23. Januar 1991. Da-lt wird der von der Enteignung be troffenen Familie nur vier Monate nach der Wiedervereinigung mitgeteilt: „Die ... Umschreibung des ... Grundstückes in Eigentum des Volkes entsprach in der Vorbereitung des Eigentumsentzuges nach dem Baulandgesetz vom 15. 06. 1984 nicht den Bestimmungen dieses Gesetzes und ist demzufolge rückgängig zu machen." Nach Aktenlage war die Enteignung offenbar ideologisch motiviert - und das zu einer Zeit, als das SED-Regime implodierte.

Sogenannte Westgrundstücke stellten im SED-Staat ein Ärgernis dar. Der „Entzug des Eigentumsrechts" (DDR-Jargon) wurde am 7. Dezember 1989 vom Rat des Kreises Kamenz bestätigt. Diesem Gremium, der höchsten politischen Entscheidungsinstanz auf Kreisebene, gehörte Tillich in exponierter Funktion an - das Mitglied der
DDR-CDU war einer von fünf Stellvertretern des SED-Vorsitzenden.

Seine Anwesenheit während der entsprechenden Ratssitzung ist durch seine Unterschrift auf einer dein Protokoll beigefügten Anwesenheitsliste belegt. Allerdings waren schon vor der förmlichen Bestätigung durch den Rat des Kreises Fakten geschaffen worden. Laut einem dieser Zeitung ebenfalls vorliegenden Kreditvertrag nahm der als staatlicher Verwalter eingesetzte VEB Gebäudewirtschaft am 9. November 1989 - ausgerechnet am Tag des Mauerfalls - bei der Sparkasse Kamenz einen Kredit über 8800 DDR-Mark für angeblich „notwendige Werterhaltungsmaßnahmen" des Einfamilienhauses auf. Damit sollte eine Begründung für die Enteignung geschaffen werden. Dabei befand sich das als Kindergarten genutzte Gebäude damals nach der Erinnerung von Anwohnern in einem für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich guten Zustand. Von der Enteignung erfuhren die Besitzer erst nachträglich.

Regierungschef Tillich gerät wegen der Mitwirkung an dem rechtswidrigen Verwaltungsakt politisch in Bedrängnis. Dass der Druck auf ihn wächst, hat einen Grund. Bevor im Rat des Kreises Enteignungen beschlossen wurden, erhielten die Mitglieder des Gremiums in aller Regel eine Vorlage mit wesentlichen Informationen. Genau diese Überlieferungen fehlen inzwischen im Kreisarchiv Kamenz. Bei Recherchen in dem Archiv wurde der WELT lediglich das Deckblatt zu dem Enteignungsbeschluss ausgehändigt: „Mehr gibt es dazu nicht."

„Die Methoden, mit denen nun offenbar Akten unterdrückt werden sollen, hat die CDU wohl aus DDR-Zeiten übernommen." Martin Dulig

Dabei müssten die Informationen laut einem auf dem Deckblatt aufgetragenen Verteilerschlüssel an ins gesamt drei verschiedenen Stellen („Büro des Rates", Kreisbauamt", „Finanzen") abgelegt seht Ein Archivnutzer will sie noch im November eingesehen haben. Sollte diese Darstellung zutreffend sein, würde sich der Verdacht einer Manipulation ergeben. Politiker aller im Sächsischen Landtag vertretenen Partei verlangen inzwischen Aufklärung. Der SPD-Fraktionschef Martin Dulig unterstellte in der „Dresdner Morgenpost" sogar, die Unterlagen seien entfernt worden: „Die Methoden, mit denen nun offenbar Akten unterdrückt werden sollen, hat die CDU wohl aus DDR-Zeiten übernommen."

Nach dein ersten Bericht über die Enteignung hatte der, sächsische CDU-Fraktionschef Steffen Flath seinen Ministerpräsidenten in, Schutz genommen. Der FAZ sagte er: „Natürlich hat» damals noch DDR-Recht gegolten." Diese Reaktion stellt sich nun wegen der klaren Rechtswidrigkeit des Vorgangs als voreilig heraus.
Von Uwe Müller

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