SPD Landesverband Sachsen - www.spd-sachsen.de Nr. 3/10, 20.01.2010
„Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Politikfindung“ - Ministerpräsident Koch ignoriert geltendes Recht
Zu der Forderung des hessischen Ministerpräsidenten Koch, eine Arbeitspflicht für SGB II-Leistungsberechtigte einzuführen, erklärt der Landesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen Sachsen, Prof. Dr. Uwe Berlit:
„SGB II-Leistungsberechtigte sind schon seit langem umfassend zur Arbeit verpflichtet. So steht es seit über fünf Jahren im Gesetz: ‚Erwerbsfähige Hilfebedürftige müssen ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen einsetzen’ (§ 2 Abs. 2 SGB II). ‚Wenn eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in absehbarer Zeit nicht möglich ist, hat der erwerbsfähige Hilfebedürftige eine ihm angebotene zumutbare Arbeitsgelegenheit zu übernehmen’ (§ 2 Abs. 1 SGB II). Dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ist grundsätzlich jede Arbeit zumutbar (§ 10 SGB II). Wer zumutbare Arbeit oder eine Arbeitsgelegenheit (sog. 1-Euro-Job) verweigert und sich nicht intensiv genug um Arbeit bemüht, wird durch Leistungskürzung oder -wegfall sanktioniert (§ 31 SGB II).
Diese klare Rechtslage kann und muss ein Ministerpräsident kennen. Die Forderung von Ministerpräsident Koch nach einer Arbeitspflicht, bei der jeder Hartz IV-Empfänger einer Beschäftigung nachgeht, ignoriert vorsätzlich oder grob fahrlässig das geltende Recht.
Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt ist sie auch in der Sache bestenfalls zynisch. Sie lenkt davon ab, dass Arbeit und Beschäftigung fehlen und die Menschen zunehmend auch dann nicht genug zum Leben haben, wenn sie einer Arbeit nachgehen. Mit dem Verweis auf „niederwertige Arbeit“ wird der weiteren Ausdehnung eines Niedriglohnsektors das Wort geredet, bei dem die für ein menschenwürdiges Leben erforderlichen Mindestlöhne deutlich unterschritten werden. Schon heute müssen Arbeitslose auch schlecht bezahlte Arbeit annehmen. Geschützt werden sie nur gegen sittenwidrigen Lohnwucher. Ministerpräsident Koch muss sich fragen lassen, ob er den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen selbst diesen letzten Schutz noch nehmen will. Richtige Antworten sind stattdessen die Einführung eines Mindestlohnes, die Förderung von „guter“ Arbeit und eine Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, die sich auf die Schaffung zukunftsfähiger Arbeitsplätze konzentriert.
Öffentliche und öffentlich geförderte Beschäftigung sind wichtige Elemente der Arbeitsmarktpolitik. Sie dienen der Integration, nicht der Abschreckung, müssen Arbeit in Würde ermöglichen und dürfen Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht verdrängen oder ersetzen. Hier - und nicht in der fehlenden Arbeitsbereitschaft der Menschen - liegen aktuell die Probleme. Fachleuten ist seit langem bekannt: Nachbesserungsbedarf bei Hartz IV besteht nicht beim “Fordern”, sondern beim “Fördern”. Handlungsbedarf besteht z.B. bei den oft nicht zusätzlichen oder nicht zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt geeigneten Arbeitsgelegenheiten, im Missbrauch von Arbeitsgelegenheiten zur Ersetzung normaler Arbeit, in nicht bezahlten Probearbeitsverhältnissen, Praktika und Arbeitserprobungen, darin, dass Bemühungen um Eingliederung nicht, unzureichend oder nicht passgenau unterstützt werden, sowie bei den oft unzureichend ausgebildeten oder durch hohe Fallzahlen überforderten Fallmanagern.
Ministerpräsident Koch missbraucht mit seinem Vorstoß kritikwürdige Einzelfälle. Niemand kann bestreiten, dass es auch Fälle unzureichender Arbeitsbereitschaft gibt. Ihnen kann wirksam mit den bestehenden gesetzlichen Mitteln begegnet werden. Sie prägen aber nicht das System und die Menschen, die zur Sicherung ihrer Existenz auf Hartz IV-Leistungen angewiesen sind. Es käme - zu Recht - auch niemand auf die Idee, eine Partei wegen einzelner Verstöße gegen das Parteispendenrecht unter den Generalverdacht stets rechtswidriger Spendenpraxis zu stellen. Die von Ministerpräsident Koch seit Jahren immer wieder einmal geforderte Arbeitspflicht im Sinne eines staatlichen Arbeitsdienstes nach U.S.-amerikanischem „Workfare“-Vorbildern ist keine Lösung. Sie gerät in die Nähe von verfassungswidrigem Arbeitszwang.“