DNN, 22.09.1999
Spekulationen um Fraktionschef sorgen in der SPD für Aufregung
Abgeordneter Nolle: "Vorbehaltlos für Kunckel" / Heute konstituierende Sitzung
DRESDEN(Eigener Bericht). Der bei den Wahlen schwer angeschlagenen SPD winkt eine kleine Streicheleinheit: Auf ihren Parlaments-Neuling Cornelius Weiss kommt die Aufgabe zu, die erste Landtagssitzung als Alterspräsident zu eröffnen. Der frühere Leipziger Uni-Rektor ist mit 66 Jahren zwar drei Jahre jünger als Ministerpräsident Kurt Biedenkopf. Aber der hat gestern erklärt, auf sein Alters-Vorrecht zu verzichten. Zur Begründung hieß es, eine solche Aufgabe müsste die ganze Legislaturperiode ausgefüllt werden, sagte Regierungssprecher Michael Sagurna gestern. Mit dem Landtag sei dies bereits abgesprochen.
Damit würde am 13. Oktober, dem Tag der Konstituierung des Parlaments, noch einmal etwas Glanz auf die Sozialdemokraten fallen, bevor sie ihre Rolle als kleinste Kraft mit den wenigsten Ausschuss-Sitzen, den geringsten Redezeiten und damit auch schwindenden Profilierungsmöglichkeiten einnehmen müssen. Den Part als große Oppositionspartei spielt nun die PDS. Ihre Führung will die Zeit zu einer umfassenden Parteireform nutzen.
Beflügelung hier, schockartige Enttäuschung da - so bot sich gestern das Bild nach den Vorstandssitzungen. Überraschend dabei die Einigkeit im 20köpfigen SPD-Landesvorstand nach kritisch-abfälligen Kommentaren über Partei- und Fraktionschef Karl-Heinz Kunckels "halben" Rücktritt und seine Vorgaben für die Nachfolgefrage. Die Einsetzung von Stellvertreterin Constanze Krehl als kommissarische Parteichefin wurde einstimmig beschlossen. Beim Votum über Kunckels Vorschlag, sie auch dem Parteitag als neue Vorsitzende zu empfehlen, gab es zwei Gegenstimmen und drei Enthaltungen. Und bei der Empfehlung, Kunckel erneut zum Fraktionschef zu wählen, enthielten sich nur zwei Mitglieder der Stimme.
"Wir fühlen uns als sächsische Verlierer wegen einer Bundespolitik, die wir nicht an den Mann und die Frau bringen konnten", obwohl diese Politik "im Ansatz richtig" sei, sagte Krehl später. Am Wahlkampf habe es nicht gelegen, der sei "geschlossen und so engagiert wie nie" von den Genossen betrieben worden. Nun erwarten sie, dass "Gerhard Schröder im eigenen, unser aller Laden aufräumt", den Eindruck sozialer Ungerechtigkeiten beseitigt. Einhellig fordern die Sachsen, der Kanzler solle auch als Parteivorsitzender den Osten zur "Chefsache" machen.
Für Unruhe sorgten gestern Äußerungen mit denen der SPD-Landtagsabgeordnete
Karl Nolle in Meldungen wiedergegeben wurde. Gegenüber DNN widersprach der Verleger jedoch dem Eindruck, er betrachte Karl-Heinz Kunckel nur als Fraktionschef für eine Übergangszeit von höchstens einem Jahr. "Ich stehe vorbehaltlos zu Kunckel", erklärte Nolle. Auf absehbare Zeit gebe es niemanden mit dem strategischen Denken und der parlamentarischen Erfahrung Kunckels. Nolle strebt nach seinen eigenen Worten die notwendigen Veränderungen an, die Kunckel selbst mit angeschoben habe. Nolle sprach sich für eine aggressive Oppositionsarbeit aus. Er hoffe zudem, dass es heute bei der Wahl des Fraktionchefs nicht zu einer Kampfabstimmung komme, bisher sei ihm kein Gegenkandidat für Kunckel bekannt. Anderenfalls plädiere er für eine Klausurtagung, um das Problem im Konsens lösen zu können. DGB-Chef Hanjo Lucassen, ebenfalls neues Mitglied der SPD-Fraktion wurde gestern mit den Worten zitiert, es gebe offensichtlich auch andere, die bereit wären, das Amt zu übernehmen.
Auf seine eigenen Ambitionen angesprochen, sagte Nolle, für einen "parlamentarischen Neuling ist dies schon aus sachlichen Gründen" ausgeschlossen. Auslöser für die Verwirrungen waren möglicherweise Nolles Äußerungen zur derzeit diskutierten Änderung fraktionsinterner Regelungen. Bisher wird der Fraktionschef für 100 Tage gewählt und dann bestätigt. Nolle sprach sich dafür aus, den Fraktionschef gleich für zwei, aber mindestens ein Jahr zu wählen. Offenbar schlugen die Wogen bereits hoch: Nolle versicherte Kunckel gestern noch schriftlich seiner Unterstützung.
Vorerst aber muss Organisationsarbeit geleistet, Ersatz gefunden werden für die Bürgerbüros der abgewählten Abgeordneten, darunter SPD-Generalsekretär Joachim Schulmeyer. Er soll seinen Auftrag bis zum nächsten Parteitag erfüllen. Was danach kommt, fällt unter "neue Strukturen", Konzepte gibt es noch nicht.
Kaum Balsam auf Kunckels Wunden dürften gestern salbungsvolle Worte vom Kabinett Biedenkopf gewesen sein. Die CDU-Regierung erklärte, der SPD-Spitzenkandidat sei bei seinem Anti-PDS-Kurs von den Genossen in Bundesregierung und anderen neuen Ländern im Stich gelassen worden. Damit seien unentschlossene Wähler indirekt zur PDS-Wahl ermutigt worden. Biedenkopf erklärte für die CDU: "Es gibt mit der PDS keine Kompromisse". Und ganz verwegene Christdemokraten überlegen, ob es möglich ist, im Landtag mit Hilfe der SPD eine Zwei-Drittel-Strategie gegen die Postsozialisten zu fahren, um deren Wirkung einzuschränken. Dass sich damit die Außenwirkung der SPD kaum verbessern würde, ist freilich nicht ihr Problem.
M. Stüting/I. Pleil
Rief die Partei gestern zu Geschlossenheit auf: die kommissarische SPD-Chefin Constanze Krehl.