DNN, 16.07.1999
SPD-Schwergewicht Nolle: Kein Mann für jede Tonart
Unternehmer mit selbstfinanziertem Wahlkampf vor Sprung ins Parlament
DRESDEN. Von Helmut Kohl hieß es immer wieder, er beeindrucke durch seine schiere physische Präsenz mit 1,93 Meter Größe und zweieinhalb Zentnern Lebendgewicht.
Karl Nolle ist sieben Zentimeter kleiner, ähnlich schwer und in der anderen Partei. Wenn es nach den bildschirmdiktierten Regeln des Spiels geht, dürfte der 54jährige für eine politische Karriere genausowenig in Frage kommen wie Kohl: kompakt, Stirnglatze, aufgerollte Hemdsärmel. Und doch ist er es, der Schlagzeilen macht, ist er der SPD-Mann, der bei anderen Mehrheiten im Lande ab Herbst der sächsische Wirtschaftminister wäre.
Er ist erst seit zehn Monaten Mitglied der Dresdner SPD, er hat (noch) kein Parteiamt, er ist mit seiner Kandidatur für den Stadtrat gescheitert und hat es doch geschafft, seinen Namen in den Medien zu halten - ohne einen weiteren Pfennig für Werbung auszugeben. Nicht daß Pfennige für Nolle, einen millionenschweren Verleger und Drucker, eine Rolle spielen würden - rund 30 000 Mark will er bereits in die Kommunalwahlen investiert haben, unabhängig vom SPD-Unterbezirk. Die gleiche Summe soll noch mal in den Landtagswahlkampf fließen. Aber man muß das Geld ja nicht zum Fenster rauswerfen, wenn es auch umsonst geht.
Chef der Chefs beim Druckerverband
"Nolle ficht Wahlergebnis an", "SPD-Nolle klagt weiter" lauteten die Überschriften, als er sich dagegen wehrte, daß Wahlleiter und Bürgermeister Wolf-Dieter Müller seinen Wahlkampfbus hatte abschleppen lassen. Genußvoll erzählt er, wie ihn Müller am Wahltag per Handy dreimal aufgefordert habe, seinen Wagen wegzufahren. Das kann er gar nicht leiden, wenn ihm jemand etwas qua Amtsmacht befehlen will. Einer mit seinen Möglichkeiten kann es sich leisten, einen Bürgermeister abblitzen und die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen. Nolle nickt: Wenn man arbeitslos sei, könne man das schlecht machen. Aber er ist eben nicht arbeitslos, sondern Verleger und Brötchengeber von 60 Leuten in einem Druckhaus, in das er nach eigenen Angaben 25 Millionen Mark gesteckt hat, er ist Chef der Chefs beim Arbeitgeberverband der regionalen Druckindustrie.
Was macht so einer in der SPD? - umso mehr, als ihn die Partei nach 23 Jahren 1986 ausgeschlossen hatte, weil er eine Zweitstimmenkampagne für die Grünen unterstützte. Die Frage ist ein Stichwort für Nolle, der zwar von sich sagt, er könne gut zuhören, der aber erstmal selbst gern redet. Interessant redet: von Beteiligungsmodellen für Mitarbeiter wie in seinem erfolgreichen Betrieb in der Bärensteiner Straße. Den baute er ab 1990 als West-Ost-Pendler auf, bevor er 1995 komplett mit seiner Frau nach Dresden umzog. Vom Ende der alten Raster von links und rechts spricht er, von seiner Juso-Vergangenheit in Hannover, die die angestrebte Lehrer-Karriere vereitelt habe. In Zeiten des Radikalenerlasses habe man ihm gesagt, er habe nicht mal Chancen auf die Hausmeisterstelle an einer Schule. Das waren die Jahre, als Nolle mit der geballten Faust "Ho-ho-ho-chi-Minh" skandierte und gegen den Vietnam-Krieg, den Einmarsch in die CSSR und die Notstandsgesetze demonstrierte.
Das Studium blieb ohne Abschluß, Nolle steckte 2000 geborgte Mark in eine erste Druckmaschine und gründete in Hannover eine Druckerei. Zu den Gesellschaftern gehörte jahrelang sein Vorstandsgenosse bei den Hannoveraner Jusos, einer, der später am Gitter des Kanzleramts rütteln und rufen sollte "Ich will hier rein". Ihm, dem dortigen neuen Chef, dem "lieben Gerd", gab Nolle in einem offenen Brief in der alternativen Tageszeitung "taz" ungefragt Ratschläge in Sachen Wirtschaftspolitik.
Nolle nennt sich selbst "der Bär vom Bärenstein", und einen Wahlkampf wie den seinen hat es in Dresden noch nicht gegeben. Was er macht, erinnert an US-amerikanische Verhältnisse, wo man mit viel Geld für PR auch ohne tiefe Parteibindung ins Parlament kommen kann - mit dem entscheidenden Unterschied, daß Nolle alte Parteiwurzeln hat, wenn auch nicht in Dresden. Er mag seine finanziellen Möglichkeiten gar nicht verstecken, er kann auch mit dem Etikett des "Maverick" leben, wie man in den USA auch im übertragenen Sinne herdenlose Bullen nennt. Als politischen Einzelgänger sieht er sich aber nicht.
Aktionen wie die Wahlanfechtung hätten ihn zu einer Anlaufstelle für jene gemacht, die nicht so unabhängig sind wie er: SPDler, die eine andere Politik wollen, Betriebe, die sich von einem CDU-Stadtrat übers Ohr gehauen fühlen. "So bin ich fast zum Robin Hood aus Dresden geworden, wo sich alle Entrechteten und Beleidigten melden", sagt er und scheint es nicht ironisch zu meinen.
Nein, daß sei kein großer Plan gewesen, im Herbst 1998 nach zwölf Jahren Pause wieder in die SPD einzutreten und fast genau ein Jahr später Schattenwirtschaftsminister im Landtag zu werden. "Ich habe mich nicht bei Karl-Heinz Kunckel auf den Schoß gesetzt, ich bin angesprochen worden", sagt er gleich zweimal. Mitte April habe ihn der SPD-Landesvorsitzende und Chef der Landtagsfraktion gefragt, ob er in sein Spitzenteam einsteigen wolle, mit dem sicheren Platz 6 auf der Landesliste.
Von Kunckels Angebot für Spitzenteam "total überrascht"
"Total überrascht und herausgefordert" sei er von dem Angebot gewesen - aber nicht unvorbereitet: Die private Wahlkampfmaschine lief, seit Februar basteln mehrere Mitarbeiter an seiner Kampagne, darunter der Chefredakteur des SPD-Organs "Brennspiegel". Sein Ortsverein hatte ihn als Direktkandidat für die Landtagswahl vorgeschlagen, ein Job, für den Bewerber nicht gerade Schlange gestanden hätten. Gegner im Wahlkreis 46 ist Justizminister Steffen Heitmann, und gegen den rechnet sich Pragmatiker Nolle bei der derzeitigen politischen Großwetterlage keine große Chance aus. Was ihm nicht viel auszumachen scheint: "Das Projekt reicht weit über die Landtagswahl hinaus." Das Projekt? "Die Modernisierung der sächsischen SPD, hin zu einer ideologiefreien Partei der sozialen Marktwirtschaft mit professionellem Management."
Er könnte den Wahlkampf einstellen oder auf kleiner Flamme kochen, sich auf sein Listenmandat freuen, und die Genossen würden es vielleicht sogar verstehen. Stattdessen will er weiteres Geld investieren, Privatvermögen, sagt er, nicht Firmenkapital. Man mag ihm glauben, wenn er sagt, daß er nur für die Arbeit und die Politik lebe, auch wenn es etwas abgedroschen klingt.
"Es muß alles auf den Prüfstand kommen können."
Wenn Nolle über einzelne Politikfelder redet, klingen nicht klassische SPD-Positionen heraus. In puncto Bildung kritisiert er Schulausfall und Zustand der Hochschulen und liegt dabei etwa auf Linie mit der CDU-Opposition in Nordrhein-Westfalen. Damit hat er kein Problem, er bevorzugt den Ansatz, der ihm im Beruf Erfolg gebracht hat: "Es muß alles auf den Prüfstand kommen können, Dogmen darf es nicht geben."
Gewichtsklassenkollege Helmut Kohl, den sie nicht "den Bär", sondern "den Dicken" nannten, saß die Dinge gerne aus. Auch Karl Nolle gibt als größte Fähigkeit Geduld an, wird aber nach eigenen Worten unruhig, wenn die Herausforderung fehlt. Im Fragebogenspiel á la FAZ nennt er als Lektüre Sachbuch statt Roman, den eludierenden Brecht statt emotional mitreißender Hesse-Prosa. Ein Pragmatiker auf dem Sprung in die SPD-Spitze: "Ich bin zu rational, um mich in Scheinwelten aufzuhalten."
Zur Person
Karl Nolle wurde am 9. März 1945 bei Hannover geboren. Nach einer Lehre als Elektromechaniker machte er das Abitur nach und studierte Geschichte, Soziologie und Philosophie auf Lehramt. 1963 trat er der SPD bei. 1969 kaufte er sich seine erste Druckmaschine und etablierte einen Betrieb in Hannover. Ab 1990 baute er sein jetziges Druckhaus in Dresden auf. 1998 trat er wieder der SPD bei, die ihn 1986 ausgeschlossen hatte. Nolle ist verheiratet und hat ein Kind.
(Stefan Alberti)