Karl Nolle, MdL

DNN, 09.06.1999

Abgründe vor Druckwalzen

Bürgergesellschaft für Kulturförderung beging 1. Jahrestag
 
DRESDEN. Mit Kreide zeichnet Peter Lehmann ein Rechteck auf den glatten Steinboden: zwei Meter lang, einen Meter breit. Zwei Stunden lang wird der Schauspieler diesen Raum nicht verlassen, die feinen Linien aus Kreide auch nur mit seinen Füßen berühren. Sie sind die Wände seines Kerkers, und die Stunden stehen für Jahre. Jahre der Gefangenschaft in einem erbärmlichen Hühnerstall, irgendwo und irgendwann im Südamerika der Diktatoren.
Mit dem Stück "Der Bartaraz" (deutsch: Der Hahn), ihrer sechsten Benefiz-Matinee, beging die Dresdner Bürgergesellschaft am Sonntag den ersten Jahrstag. Nachdem in dem Maschinensaal des Druckhauses Dresden bereits jiddische Musik, Klassik, Jazz und Flamenco-Tanz geboten wurden, kam nun mit dem Solo nach einem Roman des urugayischen Dichters Mauricio Rosencof ein Sprechtheaterstück auf die Bühne. Nichts Erbauliches servierten die bürgerlichen Freunden der Kultur zum Sonntagvormittag, sondern ein bedrückend aktuelles Stück darüber, was der Mensch dem Menschen anzutun vermag.
Wo sonst im Dreischichtsystem Offset-Maschinen rattern, hörte man nun die Stimme eines Mannes - flüstern, wimmern, schreien, im Zwiegespräch mit dem tierischen Zellenbewohner "Tito". Der Hahn, den die Wachen füttern und versorgen, während sie den Gefangenen foltern, demütigen, in Hoffnung wiegen, um ihn tiefer treffen zu können. Bis er sich wünscht, ein Baum zu sein, ein Tier, ein Toter - nur kein Mensch. Intensiv zieht Lehmann, in seiner Jugend vor Pinochet geflohen, den Zuschauer in sein Spiel, bis man sich für den Mann in der Zelle das wünscht, was er selbst ausspricht: "Wieso darf ich nicht in Ruhe tot sein?"
Der Vorsitzende der Dresdner Bürgergesellschaft, Druckhausbesitzer Karl Nolle, begründete die Auswahl des Stückes für den Jahrestag mit dem politischen Kulturverständnis des Vereins: "Wir verstehen uns als Bürger im Sinne von citoyens, als kritische Bewohner einer Stadt." Das Sprechtheater erfülle mit seinem Appell an das Selberdenken eine politische Funktion. "Viele hier haben Angst, sich erneut parteipolitisch vereinnahmen zu lassen. Kultur muß jetzt bewirken, daß die Menschen das Sicheinmischen nicht verlernen".
50 Mitglieder hat die Dresdner Bürgergesellschaft für Kulturförderung inzwischen: Künstler, Wissenschaftler, Angestellte, einzelne Unternehmer. Große Firmen sind noch nicht dabei. Mit einigen tausend Mark in der Kasse und den Erlösen der Benefiz-Matineen förderte der Verein bisher vor allem die Dresdner Sinfoniker. Eine Stiftung, wie sie Nolle im letzten Jahr anvisiert hatte, wird noch länger auf sich warten lassen. Für den Vorsitzenden kein Grund aufzugeben. "Für ein Kultur-Netzwerk braucht man viel Geduld beim Stricken", sagt er. (Kirsten Wenzel)

Karl Nolle im Webseitentest
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