Leipziger Volkszeitung, 23.09.1999
Nach Hickhack beerbt Jurk Kunckel als SPD-Fraktionschef
Beinstellereien und "Nattern" - Bisheriger Vorsitzender verzichtete
DRESDEN. Die Ära Kunckel ist doch vorbei. Der langjährige Chef hatte es nicht wahr haben wollen. Es dauerte zwei Tage nach der verheerenden Wahlniederlage, bis in Kunckel die Entscheidung gereift war, nach dem Verzicht auf den Parteivorsitz auch seine Ansprüche auf den Posten des Fraktionschefs fallen zu lassen. Kunckel hatte begriffen, dass er bestenfalls hätte Chef auf Abruf werden können. Nun hat die Fraktion einen neuen Vorsitzenden: Thomas Jurk.
Kunckel hatten seit der Wahlpleite die Randbemerkungen aus Genossenmund mürbe gemacht. DGB-Chef Hanjo Lucassen, Mitglied von Kunckels Wahlkampfteam und nun auch Landtagsabgeordneter, hatte Kunckels rasche Empfehlung für Constanze Krehl als künftige Parteichefin kritisiert. Er habe die Partei damit "brüskiert". Dann hatte
Karl Nolle, ebenfalls aus dem Team, erklärt, Kunckel solle nur für ein Jahr als Fraktionschef gewählt werden. Danach stünden andere zur Verfügung - unter anderem er selbst. In Kunckels Umgebung ist von "Nattern" die Rede, die der Parteichef an seiner Brust genährt habe.
Bereits in der Wahlnacht hatte Thomas Jurk, Ziehsohn des Ex-Vorsitzenden, gegenüber unserer Zeitung auf die Frage, ob er Fraktionschef werden wolle, geantwortet: Dazu müsse man ihn vorschlagen. Kunckel hat Jurk in den vergangenen Tagen mehrfach nach seinen Ambitionen gefragt. Nie hat sich der 37-jährige Lausitzer klar geäußert. Auch in der Sitzung des Landesvorstandes hatte sich Jurk nicht zu Wort gemeldet. An der Abstimmung über Kunckel beteiligte er sich nicht.
All diese kleinen Beinstellereien haben Kunckel offenbar am Dienstag Abend bewogen, nicht mehr anzutreten. Gestern Vormittag trug er in der konstituierenden Fraktionssitzung eine kurze Erklärung vor, in der vom "Grundkonsens in den Fragen der politischen Kultur" die Rede ist. "Dazu gehören Wahrheit, Klarheit, Offenheit, Ehrlichkeit", sagte Kunckel. "Schlechte Mittel korrumpieren die Ziele." Anschließend verabschiedete er sich in einen zehntägigen Urlaub. Constanze Krehl bedauerte schließlich Kunckels Entschluss: "Persönlich finde ich das schade."
Die neue Fraktion, sie zählt mit Kunckel 14 Personen, blieb indes etwas verdattert zurück. Beobachter sagten, die Abgeordneten seien auf diese Situation eigentlich nicht vorbereitet gewesen. Jurk brachte sich selbst für den Vorsitz ins Gespräch und erhielt schließlich neun Ja- und eine Nein-Stimme bei drei Enthaltungen. Peter Adler, lange Zeit Parlamentarischer Geschäftsführer, trat nicht mehr an. Als seine Nachfolgerin wurde Barbara Ludwig bestimmt. Unklar ist, ob Frau Ludwig Jurks Wunschkandidatin war, oder ob er sich darüber noch keine Gedanken gemacht hatte. Vize wurden der Leipziger Ex-Unirektor Cornelius Weiss und die Geringswalderin Gisela Schwarz.
Jurk sprach dann viel vom "Schulterschluss". Man müsse "auf Bewährtes setzen und Neues einbringen". Viel mehr Inhaltliches hatte diese erste nachkunckel'sche Sitzung nicht zu bieten. Bei der geplanten Aussprache über Wahlergebnis, Fraktionskurs und Zukunftspläne gab es keine Wortmeldung. In 100 Tagen steht der Fraktionsvorstand erneut zur Wahl.
Personalie
Thomas Jurk: Finanzexperte neuer SPD-Fraktionschef
Thomas Jurk, der neue Chef der Landtagsfraktion, gehört seit der Wende der SPD an. Ein Jahr später wurde der 37-Jährige in den ersten Landtag gewählt. Diesmal stand er auf Platz 8 der Landesliste. Ins politische Rampenlicht trat er als Vorsitzender des Milch-Untersuchungsausschusses zur Fördermittelvergabe des Freistaates. Der Lausitzer ist finanzpolitischer Sprecher der Fraktion, er war zuvor landwirtschaftspolitischer Sprecher.
Vor dem Wechsel in die Politik arbeitete der gelernte Funkmechaniker bei der Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) Elektro-Rundfunk-Fernsehen in Weißwasser. Der unverheiratete Vater zweier Kinder gehört seit 1994 auch dem Gemeinderat seines Wohnortes Weißkeißel an. Der gebürtige Görlitzer engagiert sich zudem als Vorsitzender des Sportvereins SV Grün-Weiß Weißwasser und in der Fürst-Pückler-Stiftung.
(Eig. Ber./dpa)
Karl-Heinz Kunckel prägte die SPD wie kein Zweiter
Neun Jahre Fraktionschef, sechs Jahre Parteivorsitzender
Dresden. Karl-Heinz Kunckel hat die Sachsen-SPD nach 1989 geprägt wie kein Zweiter. Neun Jahre lang ist der gelernte Messtechnikingenieur Fraktionsvorsitzender im Dresdner Landtag gewesen. Seit 1993 war er auch Parteichef. Kunckel hat alle wichtigen Entscheidungen der vergangenen Jahre, wenn nicht allein-, so doch mitbestimmt.
Der Radebeuler hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die SPD in der Gesellschaft des Freistaates wieder zu verankern. Unter seiner Leitung begann die SPD sich ihrer historischen sächsischen Wurzeln zu besinnen. Kunckel stand für den klaren Abgrenzungskurs gegenüber der PDS. Er blieb seiner Haltung - keine Bündnisse mit Parteien, deren Verhältnis zur Demokratie nicht geklärt ist -°treu, trotz rot-roter Bündnisse in anderen Ost-Ländern und gegen Widerspruch aus den eigenen Reihen.
Von den Genossen wurde Kunckel respektiert, von manchen gefürchtet und von kaum jemandem geliebt. Er hatte die schwierige Aufgabe, Partei und Fraktion zu führen, ohne auf funktionierende Strukturen aufbauen zu können. Also hat er vieles nach seinem Bilde geformt, und auch Personalentscheidungen getroffen, die einige schmerzten. Damit schafft man sich nicht nur Freunde, aber die,°gelinde gesagt, debattenunfreudige Partei hat ihm auch nie wirklich widersprochen.
Symptomatisch für das Verhältnis war der letzte Parteitag unter Kunckels Ägide im Februar in Görlitz. Der Vorsitzende hielt eine große programmatische Rede, die viel Zündstoff bot. Eine Debatte erschien obligatorisch, die Rede hatte Resonanz verdient. Doch es gab keine Wortmeldungen. Die Partei ließ Kunckel auflaufen. Anschließend erhielt er nur 71 Prozent der Stimmen bei der Nominierung als Spitzenkandidat.
(Sven Siebert, Manfred G. Stüting)