Leipziger Volkszeitung - Wurzener Tagesblatt, 06.09.1999
Thierse: "Politiker sind keine Übermenschen"
Am Freitag Abend SPD-Wahlkampfrunde auf dem Marktplatz
WURZEN. Am Freitag Abend hatte der SPD-Landtagskandidat Joachim Schulmeyer den Präsidenten des Deutschen Bundestages und SPD-Vize-Chef Wolfgang Thierse nach Wurzen geholt. Auf dem Marktplatz organisierte die SPD-Ortsgruppe ein gut besuchtes Fest, bei dem die Politiker - unter ihnen auch Europa-Abgeordnete Constanze Krehl und Arbeitgebervertreter
Karl Nolle - bei einem Bier auch mit den Wurznern ins Gespräch kamen.
Zunächst hatte Schulmeyer seine Gäste ins Kulturgeschichtliche Museum eingeladen, wo sie Museumsleiterin Angelika Wilhelm in einer Sonderführung vor allem mit der Ringelnatz-Sammlung vertraut machte. Im Eifer des Gefechts vergaß der Landtagskandidat dann allerdings, diesen außerplanmäßigen Service dem finanziell zu äußerster Sparsamkeit genötigten Museum entsprechend zu honorieren.
"Es ist üblich, dass Prominenz von Bundesebene im Wahlkampf Unterstützung gibt und ich habe Thierses Angebot angenommen, weil ich gerade ihm als ostdeutschen Politiker zeigen wollte, was sich in Wurzen entwickelt hat. Außerdem haben wir ihm als Germanisten mit Ringelnatz Interessantes zu bieten", begründete Schulmeyer seine Entscheidung, sich bei Thierse Schützenhilfe zu holen. Obwohl ihm momentan die Zeit zu intensiver Beschäftigung mit Ringelnatz fehle, weiß Schulmeyer genau, was er von dem Wurzener mit dem markanten Profil zu halten hat: "Seine Gedichte sind nicht so hochtrabend, verständlich für die Volksseele".
Thierse, der sich an der Akademie der Wissenschaften mit Ästhetikgeschichte beschäftigte und am Freitag "zur Unterstützung seiner Partei" schon sein Programm in Grimma, Pegau, Groitzsch und Leipzig absolviert hatte, freute sich darüber, dass ihm mit dem Museumsbesuch etwas Spezielles geboten wurde. Er reflektierte im Gespräch mit unserer Zeitung darüber, dass sich die Deutschen in ihrer Literatur mit dem Humoristischen im Gegensatz zu den Franzosen immer schwer getan hätten. Erst mit der Kabarettentwicklung der zwanziger Jahre hätte sich das geändert. Dennoch wäre so witzige und intelligente Literatur, wie wir sie Ringelnatz zu verdanken hätten, nicht allzu häufig.
Die Holztische unter den SPD-Schirmen auf dem Markt waren gut besetzt. Es waren bei Weitem nicht nur die Mitglieder der SPD-Ortsgruppe, die hier bei Bier und Gegrilltem auf das Abendbrot in den eigenen vier Wänden verzichtet hatten, um den Bundestagspräsidenten live zu erleben. Er hielt denn auch eine Rede gegen die Vergesslichkeit und betonte, dass Politiker keine Übermenschen sind. Tenor: Der SPD werde vorgeworfen, dass sie ihre Wahlversprechen nicht halte. Thierse arbeitete zur Widerlegung eine Stichwortliste von Lohnfortzahlung bis Familie und Kinder ab und ließ auch nicht den strapazierten Satz "Nur die Reichen können sich einen armen Staat leisten" aus. "Alle nicht frei von Phrasen", stelle eine junge Wurznerin lakonisch fest. Auch eine ältere Frau machte aus ihrem Standpunkt zum Thema Wahlkampf kein Hehl und betonte gegenüber unserer Zeitung an die Adresse der großen Parteien gerichtet: "Spart euch die Millionen, redet miteinander, tut was fürs Volk."
Mit Versen von Gryphius, Heine, Mühsam und Goethe sowie Sketchen, die mit brisanten Themen deutsche Befindlichkeiten beleuchteten, setzte das alternative Theaterensemble SERO aus Zwickau Kontrapunkte im Wahlkampf. "Gute Politik müssten Überfrauen und Übermänner machen, die könnten die Probleme im Handumdrehen lösen. Die anderen müssen ihren Kopf benutzen", riet der Leiter der Truppe und ließ drei überdimensionale Gestalten aufmarschieren, die zur angeregten Stimmung auf dem Marktplatz ebenso beitrugen wie der Spielmannszug Mutzschen.
(Ingrid Leps)