Leipziger Volkszeitung, 27.04.1999
In ostdeutschen Druckereien droht Flächentarif das Aus
Verbandschef warnt vor Folgen eines Urteils des Bundesarbeitsgerichts
WÖRLITZ. Der Dresdner Druckereiunternehmer und Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Druckindustrie Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt,
Karl Nolle, sieht den Flächentarif auf Grund des aktuellen Bundesarbeitsgerichtsurteils zum Klagerecht der Gewerkschaften unter Druck. Nach dem Spruch der Karlsruher Richter haben die Arbeitnehmervertretungen nunmehr Anspruch darauf, die Einhaltung tariflicher Regelungen auf dem Klageweg gerichtlich zu erzwingen. "Dieses grundlegende Urteil wird die Tariflandschaft stark verändern", erklärte Nolle bei der Jahreshauptversammlung seines Verbandes in Wörlitz.
Nur 20 Prozent der Unternehmen - darunter die LVZ-Druckerei in Leipzig-Stahmeln - sind überhaupt tarifgebunden. Nach dem Urteil zum Klagerecht glaubt Nolle, die Entwicklung der Arbeitgeberverbände zu Wirtschaftsvereinigungen ohne Tarifbindung nicht mehr aufhalten zu können.
"Die Gewerkschaft ist so - gewollt oder ungewollt - zum Totengräber der eigenen Tarifpolitik geworden", gab sich Karl Nolle überzeugt. Das Prinzip des Flächentarifs im Solidarverbund der Kleinen und der Großen, der Akzidenzdrucker und der Zeitungskonzerne, sei so kaum noch aufrechtzuerhalten.
Das Jahr 1998 ist aus Sicht des ostdeutschen Verbandes zufriedenstellend verlaufen. "Die Umsätze im Verbandsbereich stiegen um fünf bis sechs Prozent", erklärte Nolle. Aber die Unternehmen würden nicht vom Umsatz, sondern von der Rendite leben, und die sei gering.
Zum niedrigen Organisationsgrad in der Branche komme hinzu, daß die Gewerkschaft ihren mit dem Druckverband ausgehandelten Tarifrahmen mit "haarsträubenden Haustarifverträgen" unterläuft. Das trage dazu bei, daß die Lohnschere immer weiter auseinander gehe. So würden in der ostdeutschen Branche für die gleiche Arbeit Löhne gezahlt, die bis zu hundert Prozent auseinander liegen. Ein Falzer könne von zehn bis 20 DM in der Stunde verdienen, ein Vierfarbdrucker von 15 bis 28 DM. "Im Westen sind Tarife anerkannte Mindestlohnbedingungen, im Osten sind es Höchstlohnorientierungen", stellte Nolle fest.
Der Dresdner Druckereichef bezeichnete aktuelle Tarifverhandlungen als "Show-Veranstaltungen". Es würden unproduktive Fensterreden gehalten und bestellte Empörungsfaxe verlesen. "Weder die 6,5 Prozent der Gewerkschaft noch das Arbeitgeberangebot von 2,8 Prozent ist errechnet, mutmaßte Nolle.
(Jörg Walitzek)