Tagesspiegel, 08.05.1999
Kunckel setzt auf Seiteneinsteiger.
Sachsens SPD gewinnt Gewerkschaftschef Lucassen und Unternehmer Nolle als Kandidaten
DRESDEN. Mit bitterernster Mine, großen Augen und Wucht in der Stimme versteht Sachsens SPD-Chef Karl-Heinz Kunckel zu überzeugen. Auch wenn die Botschaft unglaublich klingt. Wenn Kunckel behauptet, daß er sich zutraue, das Amt des sächsischen Ministerpräsidenten ausfüllen zu können, gibt es nicht das geringste verräterische Zucken um seine Lippen. Daß Kunckel in die Situation kommen könnte, Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) in seinem Amt zu beerben, ist eher unwahrscheinlich. Vor allem, wenn er dabei bleibt, daß es nach den Landtagswahlen im September keine Koalion mit der PDS geben soll.
Kunckel strebt aber an, die absolute Mehrheit der CDU zu brechen. Für eine Partei, die es bei den Landtagswahlen vor fünf Jahren auf magere 16,6 Prozent gebracht hat, ein schweres Unterfangen. Die CDU bewegt sich nach jüngeren Umfragen bei einer Marke um 50 Prozent. Der CDU müßten 18 Mandate abgenommen werden, davon müßten mindestens zehn der SPD zufallen, hat sich der SPD-Chef ausgerechnet.
Mit der Wahl der Landesliste an diesem Wochenende will Kunckel den ersten Pflock einschlagen. Unter strikter Verschwiegenheit hat er wochenlang über einen Listenvorschlag gegrübelt. Er will Kompetenz in die neue Fraktion holen. Die künftigen SPD-Abgeordneten sollten wenigstens die Verfassung kennen, ließ Kunckel verlauten. Das Ergebnis sorgte zumindest für Aufsehen. Kunckel präsentierte ein sechsköpfiges Wahlkampfteam. Eine Überraschung: Auf Platz vier der Liste kandidiert Sachsens DGB-Chef Hanjo Lucassen. Er entschloß sich nach Rücksprache mit sächsischen Gewerkschaftsfunktionären, das Angebot Kunckels anzunehmen.
Diese Kandidatur hat bei Biedenkopf offensichtlich Unruhe ausgelöst. In einem Zeitungsinterview forderte der Ministepräsident den Gewerkschaftschef auf, seine Funktion bis zu den Wahlen ruhen zu lassen. Lucassen verletze das Prinzip der parteipolitischen Neutralität des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Für Lucassen hingegen ist das alles kein Problem. "Das kann man fein trennen." Pikant ist, daß gerade Lucassen es war, der Kunckel wegen dessen sturer Haltung gegenüber der PDS kritisierte. Sitzt Lucassen im Boot, wird es Kunckel schwerer werden, seine ablehnende Haltung gegen die PDS aufrecht zu erhalten.
Auch eine andere Kandidatur läßt aufhorchen: die des Dresdner Druckereiunternehmers und Vorsitzenden des Druckindustrieverbandes von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen,
Karl Nolle. Der Unternehmer war 1986 in Hannover aus der SPD ausgeschlossen worden, wegen "hellseherischer Fähigkeiten", wie er es nennt. Damals hatte Nolle eine Zweitstimmenkampagne für die Grünen befürwortet, was ihm als Unterstützung einer gegnerischen Organisation ausgelegt worden war. Seit dem Vorjahr ist Nolle wieder Parteimitglied.
Der Unternehmer ist alles andere als ein traditioneller Sozialdemokrat. In seinem Betrieb hat er die Mitarbeiterbeteiligung eingeführt und wettert herzhaft gegen fundamentalistische Gewerkschafter. Nolle denkt offen über die Zukunft von Normalarbeitsverhältnissen nach und tritt für eine Reform des Tarifvertragssystems ein. Von der Bundesregierung ist er enttäuscht. "Alles gut gemeint, aber schlecht gemacht. Ich dachte, die hätten was in der Schublade."
Die Seiteneinsteiger sollen Kunckel das politische Geschäft beleben. Unterschiedliche Vorstellungen müßten ausgehalten werden, heißt es.
(von Ralf Hübner)