Karl Nolle, MdL

Süddeutsche Zeitung, 10.07.2009

Stasi-Spitzel in Behörden

Lässig bis nachlässig
 
Dass in deutschen Behörden Tausende ehemalige Stasi-Spitzel arbeiten, ist bekannt. Dass es nach neuen Berechnungen rund 17.000 sind, sorgt jetzt für Aufregung.

Polizisten sollen die Guten im Reich des Bösen sein. Sie sammeln Erkenntnisse, werten Spuren aus, bringen Licht ins Dunkel und wollen mit handwerklichem Geschick einer Sache auf den Grund gehen. Kanalarbeiter eben. Es gibt viele Disziplinen in der Kriminaltechnik, und etliche Landeskriminalämter beschäftigen Beamte, die ihr Handwerk im Osten gelernt haben und früher auch mit dem Ministerium für Staatssicherheit zu tun hatten.

Sollten sie trotz erwiesener Professionalität nicht mehr Polizisten sein dürfen? Gibt es wirklich nur die eine Frage: "Wer war dabei? "Oder wird diese Frage von der letzten aller Fragen in Sachen Stasi überstrahlt: "Warum muss diese Debatte noch immer geführt werden?"

Neue Überprüfung

In diesen Tagen hat die Financial Times gemeldet, rund 17.000 frühere Stasi-Mitarbeiter seien trotz Überprüfung noch immer in den ostdeutschen Landesverwaltungen tätig und diverse dazu befragte Experten geben sich ganz erschrocken oder überrascht und fordern nun Konsequenzen, wie zum Beispiel eine neue Überprüfung der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst. Aus Sicht der Opfer des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), das nach seinem Selbstverständnis "Schild und Schwert der Partei" war, sind solche Forderungen moralisch nachzuvollziehen. Aus Sicht des Rechtsstaats aber ist der Fall komplizierter.

Das Dilemma beginnt schon bei den neuen Zahlen, die sich - in der Tendenz zumindest - mit den Zahlen decken, die der nimmermüde Stasi-Forscher Helmut Müller-Enbergs im Jahr 1999 in seinem 63 Seiten langen Aufsatz "Zum Umgang mit inoffiziellen Mitarbeitern - Gerechtigkeit im Rechtsstaat?" veröffentlicht hat. Sein Opus gehörte zu einer gewaltigen Materialsammlung für die Enquete-Kommission des Bundestags mit dem sperrigen Titel "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit". Sie blieb so folgenlos wie auch spätere Materialsammlungen.

Aufarbeitung mit Grenzen

Die Stasi-Aufarbeitung hatte von Anfang an ihre Grenzen, und dazu gehören auch die Ländergrenzen im Osten. Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht 1997 geurteilt, dass ehemalige hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter des MfS "in der Regel" nicht die Voraussetzungen für den öffentlichen Dienst erfüllten. Berücksichtigt werden müssten aber die Umstände des Einzelfalls.

Die Überprüfungspraxis in den neuen Bundesländern sei "unterschiedlich" gewesen, fand Müller-Enbergs heraus. Es sei manchmal dem Zufall überlassen worden, "welche Personen und Personengruppen überprüft" wurden, und sogar in den jeweiligen Bundesländern sei "mit unterschiedlicher Elle gemessen worden". Um die spezielle Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit kümmerten sich Referate, Personalkommissionen, Landesbeauftragte und Vertrauensräte.

Generell galt: Schulbedienstete mit IM-Vergangenheit wurden eher entlassen als belastete Polizisten. In Brandenburg und auch Sachsen-Anhalt mussten IM-Leute weit seltener mit Konsequenzen rechnen als in Thüringen und Sachsen. Bei den ehemaligen Richtern beispielsweise wurden in dem viele Jahre von Manfred Stolpe regierten Brandenburg fast jeder zweite nach der Wende wieder berufen, in Berlin waren es hingegen nur elf Prozent.

Für Ex-Stasi-Mitarbeiter gab es also in Deutschland sehr unterschiedliche Risikozonen. Auch war die Bandbreite in der Rechtsprechung beachtlich. Verwaltungsgerichte legten bei der Beurteilung früherer Tätigkeiten für das MfS meist weit strengere Maßstäbe an als Arbeitsgerichte, die die Kündigungen oft für unwirksam erklärten. Der frühere sächsische Innenminister Heinz Eggert (CDU) beklagte sich häufiger darüber, dass damals etliche der rund 1000 Polzisten, die wegen Stasi-Tätigkeit entlassen worden waren, von den Gerichten in die Jobs zurückgeschickt worden seien. Man habe Gerechtigkeit gewollt und sei im Rechtstaat angekommen, erklärte die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley.

Unterschiedliche Auffassungen

Aber - was ist Gerechtigkeit? Zum Leben nach solchen Umbrüchen gehört auch, dass die jeweils sehr unterschiedlichen Systeme auf die Experten nicht verzichten wollen. Unvergessen ist der Aufruf des früheren DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl, der die SED dazu aufrief, sich der "nationalsozialistischen Mitläufer" , die auf der "Suche nach einer Orientierung seien", anzunehmen. "Wir müssen aufpassen, dass uns nicht die CDU schon Leute weggeschnappt hat, ehe wir selbst zu irgendwelchen Maßnahmen gekommen sind", erklärte der einstige Sozialdemokrat.

Die Debatte, die jetzt wieder aufflackert, ist eine schwierige Debatte. Inzwischen gibt es DDR-Nostalgiker, die nie IM waren, und es gibt einstige MfS-Offiziere, die glühende Gegner des Sozialismus geworden sind. Und es wird kräftig geheuchelt. Stasi-Material wurde nach der Wende vernichtet, und heutzutage fordern Bundestagsabgeordnete immer wieder mal, die Ost-Fälle neu zu prüfen. Aber als die FDP neulich im Bundestag den Antrag stellte, die Vergangenheit des Bundestags wissenschaftlich zu untersuchen, wurde der Antrag abgelehnt. Ein Verfasssungsorgan will sich wohl nicht in solche Niederungen begeben.
Von Hans Leyendecker