Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 01.08.2009

„Tillichs Glaubwürdigkeit hat gelitten“

Interview mit André Hahn, Linke
 

Herr Hahn, nach jüngsten Umfragen kommt die Linkspartei auf 17 Prozent. Ist es da nicht ein wenig vermessen, dass Sie als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten antreten?

Wer sollte denn sonst die CDU herausfordern? Wir sind die zweitstärkste Partei im Land – mit deutlichem Abstand. Es gibt in Sachsen ohnehin nur zwei Volksparteien - die CDU und die Linke. Das sind die natürlichen Gegenpole in der Landespolitik, und deshalb müssen wir als Linke auch personelle Alternativen bieten. Im Übrigen hatten wir vor fünf Jahren vor der Wahl vergleichbare Umfragewerte. Wir sind dann bei 23,6 angekommen und die SPD bei 9,8. Die SPD strebt jetzt 15 bis 20 Prozent an, unser Ziel ist 25 plus x. Und wenn die Grünen wieder in den Landtag kommen, reicht es für Rot-Rot-Grün und die notwendige Veränderung im Land.

Sie sehen in der SPD und den Grünen Ihre natürlichen Koalitionspartner?

Es gibt in Sachsen so viel Stillstand, dass es einen Neuanfang geben sollte. Deshalb sind wir bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen, allerdings nicht um jeden Preis. Das geht nur, wenn ausreichend Schnittmengen mit anderen Parteien vorhanden sind und die politischen Inhalte stimmen. Bei den Themen Bildung, Hochschule, Bürgerbeteiligung, Jugendförderung und im Sozialbereich kämen wir mit SPD und Grünen wohl in vielen Punkten auf einen gemeinsamen Nenner.

Scheiden Bündnisse mit FDP oder CDU für Sie von vornherein aus, weil von dieser Seite auch keine Bereitschaft da ist?

Darum geht es nicht. Ich bin der Meinung, dass alle demokratischen Parteien prinzipiell koalitionsfähig sein müssen. Nur soll die CDU aus unserer Sicht nicht länger an der Regierung bleiben. Es gibt auch keine inhaltlichen Anknüpfungspunkte. Und was die FDP betrifft: Eine wandelnde Werbeagentur kann ich nicht ernsthaft als politischen Partner sehen. Die FDP macht das, was auch Ministerpräsident Tillich gut kann: Nette Bilder produzieren, aber keine Politik gestalten. Unser Ziel ist klar: Wir wollen Schwarz-Gelb verhindern, damit sich in Sachsen wieder etwas bewegt.

Was können Sie als Erfolg Ihrer jahrelangen Oppositionsarbeit vorweisen? Worauf sind Sie besonders stolz?

Dass wir als Fraktion gut, solide und sachorientiert gearbeitet haben. Wir haben die Regierung hart kontrolliert, politischen Druck erzeugt und inhaltliche Alternativen angeboten. Allein 36 Gesetzentwürfe zu allen wichtigen Themen wurden von uns in dieser Wahlperiode erarbeitet. Als Opposition in Sachsen Erfolge zu erzielen, ist allerdings schwer, weil Anträge im Parlament nicht nach Inhalt, sondern nach Absender abgestimmt werden. Das ist in anderen Landtagen durchaus anders. In Sachsen dagegen gilt: Alles, was von der Koalition kommt, geht durch. Alles, was von der Opposition kommt, wird abgelehnt. Oft haben wir erleben müssen, dass unsere Vorschläge später abgekupfert und mit dem Etikett der Koalition durchgebracht wurden, teils sogar fast wortgleich.

Können Sie Beispiele nennen?

Seit 1996 haben wir das kostenlose Vorschuljahr gefordert. In diesem Jahr wurde es endlich eingeführt. Sachsen hat aber 13 Jahre verloren. Oder das Thema Ärztemangel. Als wir das mit Fakten belegt haben, behauptete die Regierung noch, es gäbe gar keinen. Jetzt legt das Sozialministerium ein Aktionsprogramm dazu auf. Oder beim Landesbank-Untersuchungsausschuss. Der wurde auf unsere Initiative 2005 eingesetzt, lange vor dem Zusammenbruch der Sachsen LB. Aber wir haben über Jahre keine Unterlagen zu den dubiosen Geldgeschäften der Bank in Dublin bekommen. Manche der Fehlentwicklungen hätte man sonst frühzeitig erkennen können. Am Ende mussten der damalige Ministerpräsident, der Finanzminister und zwei Bankvorstände den Hut nehmen.

Wenn Sie mit SPD und Grünen regieren könnten, was würden Sie als Erstes durchsetzen?

Wir wollen mehr Bürgerbeteiligung und Volksentscheide in Kommunen und auf Landesebene. Mit SPD und Grünen könnten wir uns sicher auch auf ein neues Schulgesetz einigen, das ein längeres gemeinsames Lernen bis zur 8. oder 9. Klasse vorsieht. Drei Viertel der Sachsen wollen das. Auch die Wirtschaft gewinnt der Gemeinschaftsschule zunehmend Positives ab, weil dadurch soziale Kompetenzen junger Leute gestärkt werden. Nur die CDU ist dagegen, weshalb das Projekt seit Jahren blockiert wird.

Geben die Erfolge der sächsischen Schüler bei Pisa-Tests der CDU nicht recht?

Mir genügt nicht ein guter Platz im Deutschlandvergleich. Der internationale Maßstab ist entscheidend, und da stehen wir viel schlechter da. Die CDU verschweigt zudem, dass seit 1990 unter ihrer Regierung 90000 bis 100000 Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen haben. Genauso viele gibt es mit einem schlechten Haupt- oder Realschulabschluss, der ihnen kaum berufliche Perspektiven bietet. Die gut Ausgebildeten gehen weg aus Sachsen. Fachkräftemangel ist die Folge, Mittelstand und Handwerk spüren den besonders schmerzlich. Deshalb muss hier schnell gegengesteuert werden.

Würden Sie, Herr Hahn, auch einen SPD-Ministerpräsidenten unterstützen?

Wenn die SPD am Wahlabend vor der Linken liegen würde, selbstverständlich! Doch das wird es in Sachsen nicht geben. Nennen Sie mir ein Bundesland, in dem die stärkste Partei in einer Koalition auf das Amt des Regierungschefs mit Richtlinienkompetenz verzichten würde, um dem Zweitplatzierten das Feld zu überlassen! Dabei geht es wirklich nicht um meine Person, sondern um die Einhaltung demokratischer Regeln. Allerdings freut es mich nicht, dass die SPD so schlecht dasteht. Sie braucht mehr als 15 Prozent, sonst reicht es nicht für Rot-Rot-Grün. Ich habe positiv registriert, dass die sächsische SPD keine Koalitionsaussage gemacht hat. Sie könnte also auch mit uns zusammenarbeiten. Und Frau Hermenau von den Grünen hat erklärt, nach der Wahl sowohl mit der CDU als auch mit den Linken zu verhandeln.

In letzter Zeit ist viel über die DDR-Vergangenheit des Ministerpräsidenten diskutiert worden. Schadet die Debatte Herrn Tillich?

Sie hat auf alle Fälle die Wahlkampfstrategie der CDU gekippt, die eine Vergangenheitskampagne gegen die Linke fahren wollte. Ob es Herrn Tillich beim Wahlergebnis schadet, kann ich nicht beurteilen. Auf jeden Fall aber hat die Glaubwürdigkeit des Ministerpräsidenten gelitten, und das ist für das Amt nicht gut. Für mich ist nicht so wichtig, welche Funktion er in der DDR ausgeübt hat – ich habe es damals nicht so weit gebracht wie Herr Tillich. Aber dass er nur häppchenweise zugibt, was ihm ohnehin nachgewiesen wird, ist bedenklich. Er hat beim Ausfüllen seines Personalbogens nachweisbar gelogen. Unter der CDU-Regierung wurden nach 1990 Tausende aus dem öffentlichen Dienst entfernt, auch wegen falscher Angaben im Fragebogen. Viele von ihnen hatten zu DDR-Zeiten deutlich weniger wichtige Funktionen inne als Herrn Tillich als Stellvertretender Vorsitzender des Rates des Kreises. Da entsteht schon der Eindruck, dass mit zweierlei Maß gemessen wird.

Stichwort Vergangenheit. Wie ist es mit dem Demokratieverständnis Ihrer Partei vereinbar, dass ein bekennender Stasispitzel wie der Landtagsabgeordnete Volker Külow wieder als Kandidat aufgestellt wird?

Volker Külow ist ein engagierter Stadtvorsitzender in Leipzig. Er hatte nach der politischen Wende 15 Jahre lang kein Parlamentsmandat inne. Nach dieser langen Zeit muss es doch möglich sein, wieder in demokratischen Strukturen mitzuarbeiten. Herr Külow hat seine Stasi-Tätigkeit vor der Wahl 2004 öffentlich gemacht und sich mit den Menschen ausgesprochen, über die er Berichte geschrieben hat. Es kann doch wohl keine Aberkennung des passiven Wahlrechts auf Lebenszeit geben. Im Übrigen hat auch der Verfassungsgerichtshof eine Klage, Volker Külow das Landtagsmandat abzuerkennen, eindeutig abgewiesen.

Aber gibt es für Sie bei dem Thema Staatssicherheit nicht auch eine moralische Schmerzgrenze?

Die letzte Entscheidung treffen auch hier die Wählerinnen und Wähler.

Wird der Wahlkampf in Sachsen fair geführt?

Die Regierung hat offenkundig einen unverdienten Bonus, vor allem im Staatsfernsehen. Der MDR-Sachsenspiegel veranstaltet doch die reinsten Tillich-Festspiele. Tillich hier, Tillich da, Tillich in der Schokoladenfabrik oder beim Wandern. Ich besuche auch Firmen und gehe wandern, nur ist da keine TV-Kamera dabei. Eine derartige Bevorteilung der CDU wäre anderswo unmöglich. In Sachsen findet auch keine öffentliche Diskussion der wichtigsten Spitzenkandidaten im MDR statt, weil Herr Tillich sich verweigert. Haben die Bürger aber nicht ein Recht darauf? Ich jedenfalls wäre sofort dazu bereit.
Notiert von Carola Lauterbach

André Hahn ist seit zwei Jahren Vorsitzender der Fraktion Die Linke im Sächsischen Landtag. Der 46-Jährige ist gelernter Schriftsetzer und studierter Lehrer für Deutsch und Geschichte sowie promovierter Politikwissenschaftler. Als 22-Jähriger trat er 1985 in die SED ein. In den Wendemonaten 1989/90 saß er am Zentralen Runden Tisch. Er ist verheiratet. Mit seiner Frau lebt er in der Sächsischen Schweiz. Seine Tochter ist 19 Jahre alt. Hahns Leidenschaft gilt dem Fußball (FC Landtag), auch liest und angelt er gern.