Berlin - Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) wird seine DDR-Vergangenheit nicht los. Gut drei Wochen vor der Landtagswahl bringt den Politiker ein brisanter Aktenfund in Erklärungsnot. Laut Unterlagen der Birthler-Behörde soll Tillich als Staatsfunktionär im sächsischen Kreis Kamenz über sicherheitsrelevante Vorgänge aus seinem Amtsbereich berichtet haben. Die Informationen, etwa Hinweise auf mutmaßliche Straftaten, landeten auch auf dem Schreibtisch der Stasi.
Bestimmt waren Tillichs Berichte allerdings für eine Institution, von der kaum ein DDR-Bürger wusste – für die Kreiseinsatzleitung (KEL). Laut „Statut der Einsatzleitungen“ wurden solche militärischen Organe in allen Bezirken und Kreisen des SED-Staates eingerichtet. Im Verteidigungsfall und bei Volksaufständen sollten sie die „wirtschaftliche Mobilmachung“ oder die „Vernichtung von subversiven Kräften“ garantieren.
Neben dem jeweiligen Parteichef an Ort und Stelle gehörten den geheim arbeitenden Einsatzleitungen die Leiter des Wehrkreiskommandos, der Volkspolizei und der Staatssicherheit an. Als Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises war Tillich selbst kein Mitglied der Einsatzleitung, doch soll er nach Aktenlage zumindest für deren Sitzungen im Mai und November 1989 relevante Informationen geliefert haben. Sie werden in den Dokumenten als „Zuarbeit“ bezeichnet.
Die näheren Umstände der Berichterstattung gehen aus dem Birthler-Material, insgesamt 16.Blatt, nicht hervor. Jedoch erinnert sich ein ehemaliger Ratskollege von Tillich, das für „Inneres“ zuständige SED-Mitglied Karl Barthel, an das Verfahren: „Man bekam einen Anruf, wurde ins Gebäude der SED-Kreisleitung einbestellt und musste Auskunft erteilen.“
Tillich teilte auf Anfrage der WELT mit, der Weg der mündlichen Berichte im Rahmen seiner damaligen Tätigkeit sei „beim besten Willen nicht mehr rekonstruierbar“. Er gehe davon aus, dass die Berichte vom Chef des Rates weitergegeben worden seien.
Während der friedlichen Revolution in der DDR wurden die Unterlagen der Einsatzleitungen offenbar auf zentrale Anweisung vernichtet. Dass jetzt Fragmente im Archiv der DDR-Geheimpolizei aufgetaucht sind, ist für Experten überraschend.
Tillich hatte im vergangenen Jahr, als ihm der Vorwurf gemacht wurde, seine DDR-Karriere zu beschönigen, die bis dahin in der Birthler-Behörde gefundenen Unterlagen über sich öffentlich gemacht; sie waren mehr oder minder harmlos. Er gab sogar zwei nicht protokollierte Treffen mit Stasi-Mitarbeitern zu. Seine Zuarbeiten für die KEL erwähnte er dagegen nicht. Dabei kann Tillich seinerzeit kaum verborgen geblieben sein, dass die Geheimpolizei seine Auskünfte erhalten würde.
Im Rat des Kreises war Tillich ab Mai 1989 für „Handel und Versorgung“ zuständig. Diese Aufgabe war im Krisenfall wichtig. Ende Oktober 1989 – Honecker war abgetreten und das SED-Regime implodierte – soll Tillich laut Protokoll über zwei Einbruchsdiebstähle, Lebensmittelengpässe „aufgrund illegaler Ausreisen“ sowie über einen verschwundenen Hubwagen in einem Handelsbetrieb berichtet haben: „Der Fall wurde an die Kriminalpolizei übergeben.“ Selbst Hinweise auf Bagatelldelikte wie gestohlene „Waren im Wert von 30,00 Mark“ und abhanden gekommene Zigarettenpackungen sind in den Unterlagen erwähnt. Bevor die Stasi mit solchen Informationen etwas anfangen konnte, setzten die Ostdeutschen ihrem Treiben ein Ende.
Die Dokumente erhellen auch einen Vorgang, der jüngst Schlagzeilen machte. Ende Juni 1989 hatte Tillich dem Betreiber des „Hutberghotels“ in Kamenz die kurz zuvor erteilte Gewerbeerlaubnis wieder entzogen. Zwölf Beschäftigte verloren ihre Arbeit. Damals begründete Tillich den Schritt, an den er sich heute nicht mehr genau erinnern kann, mit Mängeln in der Buchführung. Als dazu kürzlich Unterlagen im Kreisarchiv Kamenz entdeckt wurden, warf der Gastwirt dem heutigen Ministerpräsidenten vor, dieser habe gegen Ende der DDR seine Existenz aus politischen Gründen vernichtet.
Das Birthler-Material zeigt: Tillich soll die Kreiseinsatzleitung – und damit auch die Stasi – bereits Anfang Mai 1989 über den geplanten Gewerbeentzug unterrichtet haben. Vage deutet das Protokoll „Probleme“ an. Erst Wochen später teilte er dem Betreiber die Sanktion mit. Waren die Gründe für das faktische Berufsverbot also doch gewichtiger? Der Pächter des „Hutberghotels“, in dem eine wichtige Funkanlage der Volkspolizei untergebracht war, galt als ideologisch unzuverlässig.
von Uwe Müller