Göttingen - Man muss den Sozialdemokraten nicht unbedingt beipflichten, wenn sie sich in diesen Tagen voller Selbstmitleid als Opfer hämischer Medienkampagnen darstellen. Aber ein bisschen kann man ihren Unmut verstehen, beobachtet man den pfleglichen Umgang vieler Kommentatoren mit der CDU. Alles scheint demzufolge bestens zu stehen mit der CDU der populären Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Dabei ist die Welt der deutschen Christdemokraten alles andere als in Ordnung. Schaut man genauer hin, müssten dort die Sirenen ähnlich schrill heulen wie bei den Sozialdemokraten. Gehen wir die Faktenlage rasch und möglichst schnörkellos durch:
Der christdemokratische Schwund ist ein europaweites Phänomen. In den fünfziger Jahren stand die europäische Christdemokratie in den Ländern, in denen es sie gab, im Durchschnitt bei 50 Prozent. In den letzten Jahren bewegte sie sich vielerorts auf die 20 Prozent zu und zurück. Außerhalb Deutschlands begann der Schrumpfungsprozess der katholischen und interkonfessionellen C-Parteien schon in den achtziger Jahren, teilweise früher. Wahrscheinlich begannen die Diskussionen über eine Erneuerung christlicher Politik oder der Mitte-Rechts-Parteien dort früher und waren tiefergehend als hierzulande, weil weder Helmut Kohl noch Angela Merkel solchen Debatten schätzen.
So machen es die anderen: Sanfte, Progressive, Kapitalismuskritiker
In den Niederlanden gibt es im zuvor zeitweise schwer gebeutelten Christdemokratischen Appell unter Jan Peter Balkenende interessante Überlegungen zu einem christlich durchwirkten Kommunitarismus, die unter der Überschrift "Souveränität der Bürger im eigenen Kreis" stehen und vom Ministerpräsidenten selbst immer wieder angestoßen werden. Die schwedischen Konservativen - die allerdings wie die anderen Konservativen nicht im strengen Sinne zur christdemokratische Parteifamilie zu rechnen sind - in der Moderaten Sammlungspartei des Regierungschefs Fredrik Reinfeldt haben ihre frühere rigide Antiwohlfahrtsstaatlichkeit unterdessen auch konzeptionell überwunden. Sie basteln programmatisch an einem "sanften Konservatismus".Die französischen Gaullisten unter dem Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy - dem "Patron der Tüchtigen", wie er sich selbst gern nennt - haben ihre Neuerungsenergien mehr auf den politischen Stil, auf die Methode politischer Führung gelenkt. Bemerkenswert ist überdies, wie die französischen Konservativen sich mehr und mehr auf die Heldengestalten des Sozialismus in ihrem Land beziehen, auf Jean Jaurès und Léon Blum, dazu bewusst frühere prominente Sozialisten in ihr Regierungshandeln einbezogen haben.
Grüner Baum statt Faust mit Fackel
Den größten programmatischen Erneuerungsehrgeiz unter den Mitte-Rechts-Parteien in Europa entfaltete der Anführer der britischen Konservativen, David Cameron. Unter Blair schien seine Partei bereits hoffnungslos abgeschlagen, geradezu isoliert als elitäre Interessenagentur arroganter Oberschicht-Engländer. Cameron achtete zunächst auf eine neue, weichere Tonlage, veränderte überdies die Parteisymbolik: Statt der martialisch hochgereckten Faust, die eine Fackel trug, kennzeichneten die Konservativen sich nun mit einem grünen Baum. Man wollte ökologisch erscheinen.
Eine Zeitlang ließ Cameron den Konservatismus durch den Theologen Phillip Blond vordenken. Das war der sicher spektakulärste Diskurs im Konservatismus der letzten Jahre. Unter dem Einfluss von Blond forderte auch Cameron eine "Rekapitalisierung der Armen", sprach von einem "ethical capitalism". Blond selbst setzte sich für einen neuen Lokalismus, für eine Selbstregulierung autonomer Bürgergemeinschaften, für eine Dezentralisation der Exekutive und die Stärkung der Zivilgesellschaft ein.
Über Monate beschäftigten die Ideen Blonds und des "Red Toryism" die intellektuelle Debatte auf der Insel; auch Teile der Linken waren fasziniert davon. Zuletzt hat Cameron allerdings Angst vor der eigenen Courage bekommen und sich von Blond abgesetzt. Cameron bevorzugt jetzt einen gemäßigten "Progressive Conservatism" statt des gewagten kapitalismuskritischen roten Toryismus.
Der "Kohlismus" ließ den Dingen seinen Lauf
Einiges an dieser Debatte war also gewiss auch Schaumschlägerei, war semantische Kosmetik für konservative Politiker, die sich vom nicht zuträglichen Etikett sozialer und ökonomischer Kälte lösen wollten. Doch anderes ist unzweifelhaft originär und ernsthaft.
Allein, in Deutschland ist von solchen Anstößen und Reflektionen innerhalb der Christdemokratie kaum etwas zu erkennen. Der "Kohlismus", der den Dingen seinen Lauf ließ, scharf geschnittene Analysen und präzise Begriffe in eindringlichen Diskussionen mied, stattdessen das Vage und Unentschiedene vorzog, dieser "Kohlismus" ist keineswegs überwunden. Und das gilt nicht nur für die CDU. Das gilt ebenso für die deutsche Gesellschaft insgesamt.
Denn wie sonst wäre die Popularität von Angela Merkel erklärbar? Durch ihren Ideenreichtum oder eine Fülle kreativer Überlegungen ist sie jedenfalls bisher nicht aufgefallen.
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,644067,00.html