Karl Nolle, MdL

Süddeutsche Zeitung, 24.08.2009

Kampflos in den Kampf

Ministerpräsident Stanislaw Tillich führt seinen Wahlkampf wie seine Regierungsgeschäfte - ohne Höhen und Tiefen. Politische Visionen sind nicht seine Sache, eher Konkretes. Das trifft sich gut, denn von politischen Überfliegern wollen die Sachsen ohnehin
 

Lauta/Sachsen - Samstagmorgen vor einem Einkaufszentrum im sächsischen Hinterland: Menschen in grellbunten T-Shirts und Trainingshosen schlappen zu den Geschäften, die sich in einem grauen Betonkasten der Nachwendezeit befinden. Auf dem Asphalt vor der blau leuchtenden Aldi-Reklame steht ein Herr im elegant geschnittenen Anzug und scheint hier so gar nicht hinzupassen. Dass es der Komiker Hape Kerkeling wäre, der zurzeit als Horst Schlämmer Wahlkampf macht und versucht, die Bürger zum Lachen zu bringen, scheint in dem entlegenen Industriestädtchen Lauta, das eingebettet zwischen Birkenwäldern in der Niederlausit7 bei Hoyerswerda liegt, eher ausgeschlossen. Und doch hat die junge Mutter, die mit ihrem Zwillingskinderwagen vor dem Supermarkt steht und ihre Einkäufe sortiert, das Gefühl, dass mit dem Mann im beigen Anzug irgendetwas nicht stimmen kann.

Immer wieder beugt der Herr sich über die hinter bauschigen Deckbettchen versteckten Babys, wedelt mit einem knallgrünen Luftballon über ihren Näschen herum, und versucht hartnäckig, mit der Mutter ins Gespräch zu kommen. „Etwa acht Wochen alt, wie?", fragt er, tippt auf ein zweites Deckbettchen in einem anderen Kinderwagen und sagt: „Sicher ein Mädchen, nicht wahr?" Nein, erwidert die Frau einsilbig, es sei ein Junge. Doch der Herr im dezenten Jackett mit der farblich genau dazu abgestimmten, braun-blau gestreiften Krawatte lässt sich nicht abwimmeln. „Ach natürlich, es trägt ja ein blaues Hemdchen", entschuldigt er sich.
 
Auf einem öden Parkplatz schüttelt er Passantenhände. Wohl fühlt er sich dabei nicht.

„Ist heute wohl nicht Ihr Tag, wie?", meint die junge Mutter daraufhin und fährt den Herrn im Anzug nun unverblümt an, ob er sich nicht komisch vorkomme: „Sie sagen nicht mal, wie Sie heißen, und sprechen hier einfach fremde Frauen an."

Stanislaw Tillich (50) lächelt tapfer. Es muss ja nicht jeder im Land den Ministerpräsidenten kennen, auch wenn dieser zurzeit allenthalben auf riesigen Wahlplakaten zu sehen ist. „Der Sachse." So lautet die knappe Überschrift, unter der die CDU im Freistaat für ihren Spitzenkandidaten wirbt. Und in diesen zwei Worten drückt sich tatsächlich aus, was aus Sicht der sächsischen Christdemokraten die wichtigste Eigenschaft ihres Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten ist: Er ist ein Einheimischer.

Jahrzehntelang war der kleine Freistaat am östlichen Rand der Republik von westdeutschen Regierungschefs angeführt worden. Nach dem Untergang der DDR hatte hier zunächst Kurt Biedenkopf (CDU), der im Westen damals etwas ins Hintertreffen geraten war, sein politisches Comeback gefeiert - in dem barocken Ambiente der Landeshauptstadt Dresden war der aus Düsseldorf zugezogene Politiker bald eingesächselt worden als „Keenig Kurt". Nicht ganz so liebevoll verfuhren die sächsischen Christdemokraten mit dem Sauerländer Georg Milbradt, der anfangs im Amt des Finanzministers und von 2001 an als Ministerpräsident das Land erfolgreich durch allerlei bedrohliche Finanzklippen steuerte. Nach dem Zusammenbruch der landeseigenen SachsenLB und einer Palastrevolution in der Sachsen-Union musste Milbradt im Mai 2008 seinen Hut nehmen. Seither ist „der Sachse" Stanislaw Tillich dran, der - wenn man's genau nimmt - eigentlich dem rund 30.000 Mitgliederzählenden Volksstamm der Sorben angehört.

Da steht er nun an diesem Samstagmorgen auf dem Parkplatz des Lausitzer Einkaufscenters und drückt reihenweise Passantenhände. Schließlich ist am kommenden Sonntag Landtagswahl in Sachsen, und dabei zählt jede Stimme. „Gehen Sie zur Wahl", hat er schon etwas früher am Morgen im benachbarten Städtchen Königsbrück seine Zuhörer aufgefordert: „Wechseln Sie aus dem Zuschauerraum auf die Bühne, gehen Sie wählen", versucht er etwas umständlich die versammelten Lehrlinge, Meister und Unternehmer zu überzeugen. In der weiß gekalkten Halle eines einstigen DDR-Kombinats für Kochgeschirr, in dem gerade ein überbetriebliches Ausbildungszentrum sein Jubiläum feiert, fühlt sich Tillich wohler als auf dem öden Parkplatz in Lauta: Hier kennt ihn nicht nur jeder, hier kann er ohne Probleme kommunizieren, er, der studierte Maschinenbauingenieur. Es ist ein Heimspiel.

Locker schlendert Tillich von einer Abteilung zur nächsten, er plaudert mit Schreinerlehrlingen, schaut einem Mechatronikmeister beim Metallschneiden über die Schulter und fachsimpelt mit den ihn begleitenden Unternehmern über allerlei Initiativen zur Energieeinsparung, Überlegungen zur Erleichterung der Kreditvergabe oder zur besseren Lehrlingsrekrutierung. „Super", sagt der Ministerpräsident immer wieder, was einerseits ein Lob sein soll, andererseits aber auch ein Versuch, menschliche Nähe zu seinem Gesprächspartner herzustellen. Kein Zweifel, die Förderung der Wirtschaft ist eines der Hauptanliegen Tillichs. Und so wundert es wenig, wenn er später auf die Frage, welches ihm die wichtigsten Themen als Ministerpräsident seien, prompt eine Antwort gibt, die ziemlich nach Fachchinesisch klingt: Vor allem anderen, sagt der Politiker da allen Ernstes, sei die „Frage der Fachkräftebereitstellung für die Unternehmen zu lösen".

Nein, große politische Visionen sind Tillichs Sache nicht. Er hat eher Konkretes im Sinn wie die Entwicklung einer „serviceorientierten Verwaltung" oder die Förderung einer neuen Wirtschaftsbranche von „Medizin-Unternehmen" -privaten Krankenhäusern, mit denen die fixen Sachsen sich eine neue Marktnische sichern und sich als Luxusreparaturwerkstatt für Reiche aus aller Welt einen Namen machen könnten. Lauter Einzelheiten kann Tillich auf Bedarf herunterspulen, funkensprühende Reden aber darf man von ihm nicht erwarten. Seit seinem Amtsantritt führt er die Regierungsgeschäfte ohne Höhen und ohne Tiefen.

Das Abenteuer SachsenLB, jener Landesbank, die im Sommer 2007 als Erste in den Strudel der Bankenkrise geriet, haben Tillich und sein Vorgänger Milbradt gerade noch glimpflich beenden können: Lediglich für 2,7 Milliarden Euro muss der Freistaat aufkommen, andere Länder haben ganz andere Summen zu stemmen. Ansonsten ist in Sachsen beinahe alles beim Alten geblieben, unter den Ostländern steht der Freistaat noch immer als Primus da. Zwar konnte die Regierung den Chiphersteller Qimonda nicht vor der Insolvenz bewahren. Dank eines schnell aufgelegten Kreditprogramms gelang es aber, anderen Finnen noch rechtzeitig unter die Arme zu greifen. Und So eilt Tillich nun von Termin zu Termin, bechert aus Bierhumpen, schüttelt Hände und findet fast alles „super". Ein Techniker im Regierungsamt, der seine Augen stets überall zu haben scheint. Immer darauf konzentriert, dass ihn kein Fotograf in einem unbedachten Moment vor die Linse nimmt, und so vorsichtig im Umgang mit seiner Umwelt, dass er beim Volksfest im Süden von Leipzig nicht mal die Frage beantwortet, welche Wurst besser schmeckt: „Die sächsische oder die sorbische?" Viel zu heikel. da eine Antwort zu geben. 

Er ist lange nicht so beliebt wie „Keenig Kurt" - aber wer ist das schon.
Tillich - gleichsam ein Mann ohne erkennbare Eigenschaften. Doch das passt. Denn von politischen Überfliegern wollen die Sachsen zurzeit eh nicht allzu viel wissen. Zwar werden, 20 Jahre nach der „friedlichen Revolution" im Herbst 1989, in diesen Wochen allerorten Festreden über den mutigen Kampf der DDR-Bürger gegen die SED-Herrschaft gehalten. Doch viele Menschen haben derzeit andere Sorgen: Sie fürchten, dass ihr nach dem Ende der DDR mühsam errungener Lebensstandard in der augenblicklichen Krise wieder zerrinnen könnte. Wie aus einer aktuellen Umfrage des Leipziger Instituts für Marktforschung hervorgeht, fühlen sich 42 Prozent der Sachsen von Arbeitslosigkeit bedroht, jeder Zweite glaubt, bald weniger Geld zur Verfügung zu haben als bislang. Den Politikern trauen die Bürger der Umfrage zufolge nicht allzu weit über den Weg. So meinten 66 Prozent der Befragten, dass die großen Volksparteien nicht in der Lage seien, die Probleme in den Griff zu bekommen. Überdies rechneten 80 Prozent der interviewten Wahlberechtigten mit weiteren Firmenpleiten im Land. Und zwei Drittel aller Befragten zeigten sich laut Umfrage immer weniger überzeugt vom Modell der freien Marktwirtschaft.

Ernüchternde Befunde. Doch um seine Mehrheit braucht Ministerpräsident Tillich kaum zu zittern. Zwar steht die Sachsen-CDU mit Umfragewerten von etwa 40 Prozent heute weit schlechter da als zu Zeiten des legendären ..Keenig Kurt". der bis zuletzt noch annähernd 60 Prozent der Stimmen holte. Doch für die Christdemokraten stehen gleich zwei Koalitionspartner bereit, mit denen es allemal möglich sein dürfte, eine Regierungsmehrheit zu bilden: Die SPD mit dem derzeitigen stellvertretenden Ministerpräsidenten Thomas Jurk, die zurzeit bei 15 Prozent gehandelt wird, würde die augenblickliche Koalition mit der CDU gern fortsetzen, die vor fünf Jahren eher als Notgemeinschaft begründet wurde, nachdem die CDU unter Milbradt erdrutschartig an Stimmen verloren hatte. Tillich freilich schielt heute eher nach den Freidemokraten unter dem Werbe-Manager Holger Zastrow, die laut Umfragen bei dem Wahlgang am 30. August mit zehn Prozent rechnen können gegenüber nur knapp sechs Prozent bei den letzten Landtagswahlen im Jahr 2004.

Bei den Liberalen, meint Tillich, „kaufe ich nicht die schwarze Katze im Sack". Zwar gibt es nach einer in der Staatskanzlei erstellten Vergleichsstudie der vier Wahlprogramme von CDU, SPD, FDP und den Grünen in vielen inhaltlichen Themen verblüffender weise die meisten Überschneidungen zwischen CDU und Sozialdemokraten - so etwa in der Industriepolitik, bei der inneren Sicherheit und  selbst in der praktischen Schulpolitik. Doch unter den Liberalen, meint Tillich, „kenne ich viele Leute persönlich". Hingegen gibt es in der SPD-Fraktion aus Sicht des Ministerpräsidenten durchaus nicht nur angenehme Zeitgenossen.

Da ist beispielsweise der Abgeordnete und Druckereibesitzer Karl Nolle. Ein streitbarer Sozialdemokrat, der nach der Wende aus Hannover nach Dresden kam. Nolle war es auch, der die einzige ernsthafte Imagekrise auslöste, mit der sich Tillich seit seinem Amtsantritt im Mai 2008 herumschlagen musste. In einem Buch mit dem sinnreichen Titel „Sonate für Blockflöten und Schalmeien" hatte Nolle die DDR-Vergangenheit von Tillich unter die Lupe genommen: Insbesondere dessen Zeit als stellvertretender Vorsitzender im Rat des Kreises Kamenz. In diesen Posten war Tillich noch im Sommer 1989 als Mitglied der DDR-CDU gerückt - 20 Jahre später wird ihm nun vor allem vorgeworfen, dass er sich in einem Dienstformular, das er beim Antritt eines Ministeramtes 1999 hatte ausfüllen müssen, wie auch in seinen späteren öffentlichen Äußerungen nicht klar dazu einließ. 

Dass er früher Stasi-Leute empfangen musste, schrieb er lieber nicht auf.

Es war „kein Ruhmesblatt", was er sich einst im DDR-Regime geleistet habe, sagt Stanislaw Tillich heute zu seiner Tätigkeit im Rat des Kreises. Nach seinem Ingenieurstudium hatte Tillich zunächst als Konstrukteur in einem Elektrounternehmen gearbeitet. 1987 wechselte er in den Rat des Kreises, wo er mit gerade mal 30 Jahren einen bemerkenswert schnellen Aufstieg vom Angestellten zum stellvertretenden Vorsitzenden und Verantwortlichen für „Handel und Versorgung" hinlegte. Ein schwieriger Posten, denn in der DDR fehlten ständig irgendwo Waren. Dass er in diesem Amt freilich auch Besuche von Stasi-Mitarbeitern empfangen musste, erwähnte Tillich in dem nach der Wende auszufüllenden Personalbogen nicht und schrieb stattdessen das Wort Nein hinter eine entsprechende Frage.

Womöglich hätte eine positive Antwort den Verzicht auf ein Regierungsamt bedeuten können, denn in Sachsen wurden die Bedingungen für die Übernahme in den öffentlichen Dienst anfangs streng gehandhabt. Erst im Juli kam Tillich in einem hektisch anberaumten Hintergrundgespräch mit der Wahrheit heraus. „Ich wollte nicht riskieren, darüber die Wahl zu verlieren", sagt er heute. Doch die Sachsen haben ihm dies vermutlich nicht mal übelgenommen - schließlich ist er einer von ihnen.
von Christiane Kohl