Karl Nolle, MdL

der Freitag, 25.09.2009

Wochenthema: No we can’t

Wie die SPD im Netz Wähler gewinnen wollte und kläglich scheiterte. Ein anonymer Insider berichtet aus der Mitte der sozialdemokratischen Wahlkampfmaschine
 
Im Großraumbüro der Nordkurve ist es stets kälter oder wärmer als draußen, die Klimaanlage und die getönten Scheiben halten die Wirklichkeit fern. Trotz der Riesenfenster braucht der Raum zu jeder Tageszeit künstliches Licht. Man soll die Fenster geschlossen halten, aber ich friere davon, der Geist wird müde. Neben mir sitzt ein junger und sympathischer Kollege, der Klimaanlagen liebt und es hasst zu schwitzen. Was das betrifft, ist die Wahlkampfzentrale der SPD ideal für ihn. Ich mag ihn. Er bringt mir Kaffee mit, ist nicht so kleinlich, hat immer einen flotten Spruch auf den Lippen, und ich habe ihn noch nicht schlecht gelaunt erlebt. Ich frage ihn über seine „Generation“ aus, und er antwortet offen. Politisch steht er ziemlich weit rechts in der SPD. Die Klimaanalage verhindert das Schwitzen übrigens nicht wirklich, sondern vereint das individuelle Schwitzen zu einem Kollektiv: viele Körper, viele Raucher, viele Fastfood-Esser, viele Bäuche, viele Gehemmte, die einem kaum in die Augen schauen können, wenn man ihnen „Guten Morgen“ sagt, zu viele Menschen auf einem Haufen, zu schwere Jacketts, zu enge Jeans, manch ungewaschener Fuß, manch ein Deostift vom Discounter: All dieses Leben treibt die Klimaanlage nicht aus den Körpern raus, sondern wirbelt es sozial und demokratisch im Raum herum, und das riecht und drückt und macht die rotfleckigen Gesichter grau oder gelb. Überhaupt: das Licht! Man sieht aus, als habe man die Nacht durchgemacht in diesem Licht.

Es ist Juni, der Montag nach der Europwahl.Wir haben verloren. Unser Chef Kajo Wasserhövel sieht heute nicht nur wie sonst überarbeitet, sondern richtig fertig aus. Ein „Deutschlandfunk“-Beitrag bezeichnet ihn wieder mal als „Harry Potter des Wahlkampfs“, sinnfällig umdudelt von Musikschnipseln wie „Vorwärts und nicht vergessen“ und „Going down, down, down, down…“ Kajo hat sicherlich seine Schwächen, aber zwei Sachen sind für Freund und Feind unübersehbar: Er ist hoch belastbar, ackert wie ein Tier. Und seine Eitelkeit hält sich wohltuend in Grenzen. Seine Stimme dringt auch heute, obwohl wenig voluminös, in jede Ecke des Großraumbüros, auch wenn er nur telefoniert: ein leicht gequetschtes, charakteristisches Näseln.

Diffuses Misstrauen in der Parteizentrale

Und doch sorgt Kajo, als der Kopf des Ganzen, als erster Wahlkämpfer der SPD, für eine wenig konstruktive Stimmung, ein diffuses Misstrauen in der Berliner Parteizentrale, die schon viele Chefs hat kommen und gehen sehen, denn jeder Parteichef bringt seinen eigenen Generalsekretär, seinen eigenen Bundesgeschäftsführer mit. Und der sortiert dann das gesamte Organigramm neu: Abteilungen, Räume, Telefonnummern. Die Angestellten – die „Hauptamtlichen“ – müssen sozusagen flexibel bleiben in ihrem Beharrungsvermögen. Es gibt gleitende Arbeitszeit im Willy-Brandt-Haus, die beim Rein- und Rausgehen elektronisch erfasst wird, aber es gibt keine Möglichkeit, die unsichtbaren Türen zu öffnen, die überall den Weg versperren, man stößt sich daran, läuft mit Beulen im Kopf herum, die keiner sieht.

Ich habe vor ein paar Monaten hier angeheuert. Weil ich Obamas Auftritt an der Siegessäule gesehen habe. Das war der Grund. Diese Fähigkeit zur Emotionalisierung. Das hat mich mitgerissen. Ich komme aus der PR. Am liebsten würde ich in Deutschland Ähnliches erleben, eine Aufbruchstimmung, allgemeine Begeisterung, Re-Politisierung, in unserem grauen, öden Merkel-Land. Aber das Jahr 2009 ist uns ja als ein „Superwahljahr“ angekündigt worden. Und ich bin unbedingt dafür, dass die Kanzlerin Bräsig abgelöst wird. Was kann ich dazu beitragen? Am liebsten würde ich laut rufen: „Hallo! Ich bin da! Ich bin bereit! Ich will auch mitmachen!“ Und jetzt mache ich mit. Spezialgebiet Onlinewahlkampf.

Wer "Obama" sagt, muss 5 Euro zahlen


Barack Obama hatte auf allen Kanälen kommuniziert. Der Wahlkampf in den Vereinigten Staaten war ein einziger Dialog, eine Gemeinschaftsherstellungsmaschine. Die Technik war auch vorher schon vorhanden, aber Obama hat sie emotional aufgeladen und mit der Welt außerhalb des Netzes verknüpft. Die dadurch ins Kraut schießende, grandiose Basisbewegung mit ihrer zuvor unmöglich scheinenden politischen Fruchtbarkeit trieb nicht nur den deutschen Beobachtern Tränen der Rührung (und des Neides) in die Augen. Darüber ist viel geredet und geschrieben worden. Obamas Erfolg 2008 hatte die Erwartungen in Deutschland 2009 enorm geschürt: Die Wahlkampfplaner wirkten euphorisiert. Die Agenturen taumelten in einer Obamania, würden am liebsten alles genauso machen wie der große Polit-Star. In jeder Besprechung fällt gefühlte 100-mal der Name des amerikanischen Zauberers, gibt es zig Anspielungen auf seine innovativen Verfahren. Bald werden Strafgebühren angesetzt: Wer „Obama“ sagt, muss fünf Euro zahlen.

Wahlkampf im Netz, über das Netz, mit dem Netz. Pläne werden geschmiedet, Ideen geboren, Konzepte entworfen. Die Hoffnung keimt, dass der Zauber auch nach Deutschland überspringen möge, dass auch hier die Politikverdrossenheit der Begeisterung weicht, hier die Bürger für Politik interessiert und mobilisiert werden können. Vor allem die SPD, die sich gerne als modern und internetaffin präsentiert, äußert sich begeistert. Kajo Wasserhövel schreibt am 5. März um 14:53 Uhr auf wahlkampf09.de, dem gerade neu gestarteten Kampagnenportal: „Der Wahlkampf in den Vereinigten Staaten hat allen politisch Interessierten klar gezeigt, welche Power für eine lebendige Demokratie durch das Netz geöffnet wird. Aus meiner Sicht ist das eine Riesenchance für das Land, für die Parteien, für die Demokratie. Das Internet ist keine Einbahnstraße, sondern ein vielfältiges und dynamisches Dialogmedium – und das wollen wir nutzen. … Wir sind als Parteien auch Lernende im Netz. … Ich freue mich auf viel Engagement, Kreativität und auch auf die kritischen ‚Schubser‘, die uns weiterbringen.“ Kajo beantwortet von den 31 Kommentaren auf diesen Beitrag keinen einzigen. Kommt sicher noch, denke ich mir.

Ein bisschen Web 2.0 gibt es nicht

Barack Obama hatte schon 2007 in seine Netzarbeit investiert und am Ende im großen sozialen Netzwerk Facebook über drei Millionen „Freunde“. Beim Microblogging-Dienst Twitter bekannten sich 100.000 „Follower“ zu ihm. Das Team Obama hat von insgesamt über 3,7 Millionen Einzelpersonen Spenden einwerben können, die insgesamt rund 750 Millionen US-Dollar zusammenbrachten, davon stammte ein Viertel aus Klein- und Kleinstspenden. Zwei Drittel davon wurden online überwiesen. Jeder kleine Cent hatte große Bedeutung, war gewissermaßen gleich viel wert. Jeder Bürger war aufgerufen mitzumachen, wurde direkt angesprochen. Am Ende erhielten rund 13 Millionen Unterstützer differenzierte Mails: Die Datenbank unterschied nicht nur nach Wohnorten, sondern auch nach Engagement-Bereitschaft und Typen. Auf der Organisationsplattform my.barackobama.com („myBo“) zur Vernetzung, Spendenwerbung und Mobilisierung von Offline-Aktionen registrierten sich rund zwei Millionen Wähler, die ihre persönlichen Spendenaktionsziele im eigenen Freundes- und Verwandtenkreis definieren und Erfolge veröffentlichen konnten. So entstand eine gewaltige Bürgerbewegung. Und jede kleine Gruppe wurde mit ihren spezifischen Bedürfnissen angesprochen. Narrowcasting statt Broadcasting – auf 57 Myspace-Seiten, in Facebook, Flickr, Digg, Twitter, Eventful etc., mit über 100 verschiedene Kampagnenseiten, rund 20 Blog-Einträgen pro Tag und fast 2.000 Youtube-Videos, die insgesamt 14,6 Millionen Stunden geschaut wurden.

Und wir? Na, wir wollen das auch. Zumindest in der Light-Version. Wir haben die Schnauze voll von der Großen Koalition. Von der Politikmüdigkeit. Der technokratischen Sprache. Der Bürgerferne. Wir wollen Emotionen. Wir wollen Wahlkampf. Und im Vergleich zu den USA haben wir sogar einen Vorteil: Anders als die großen US-Parteien verfügt die SPD bereits durch ihre knapp 500.000 Mitglieder über ein großes Netzwerk an potenziell Aktiven, die im Internet seit 2007 eine recht aktive eigene Community haben: meineSPD.net. Hier sind knapp 30.000 Genossen und Sympathisanten vernetzt. Umso erstaunter bin ich, als ich erfahre, dass Kajo Wasserhövel im „Vorwahlkampf“ im Februar 2009 überlegt, wie er diese Community besser kontrollieren kann, ihre Freiheiten einschränken, damit zum Beispiel unliebsame Forenbeiträge nicht von Spiegel Online als Beweis für parteiinternen Streit zitiert werden können.

Ein bisschen Web 2.0 gibt es aber genauso wenig wie ein bisschen schwanger. Wenn man sich für das Leben entscheidet, muss man Kontrollverlust in Kauf nehmen. Das Netz bewahrt jede Äußerung dauerhaft und sichtbar auf, und andererseits ist das Tempo um ein Vielfaches höher als bei den klassischen Kanälen politischer Kommunikation. Wer nicht schnell agiert und reagiert, kann seine Botschaft rasch massenhaft ins Gegenteil verkehrt sehen. Entsprechend entzieht sich dieses Mitmachnetz der klassischen Parteienhierarchie. Ehe Kajo Wasserhövel in der Nordkurve auch nur einen Blick auf den Entwurf eines Video-Treatments, eines Kommentarvorschlags oder einer Gegenmeldung werfen könnte, kann die Gelegenheit schon vorbei sein, die aktuelle Debatte im Netz zu beeinflussen. Wer hier kein Frühwarnsystem hat und nicht delegieren kann, verliert Schlagkraft – und zeigt sich web-untauglich. Ich bin gespannt, wie die SPD, wie die Wahlkampfleitung damit umgehen wird. Wie ernst nimmt die SPD den Bürger als Dialogpartner, als Produzenten von Inhalten, Ideengeber, konstruktiven Kritiker in diesem Superwahljahr 2009? Bekommen wir unser Web-Superwahljahr? Oder wird der immer wieder beschworene „Dialog“ in erster Linie ein Selbstgespräch.

Steinmeier? Der ist doch netzaffin

Die Sozialdemokraten scheinen begriffen zu haben, was auf sie zukommt. Die Begriffe stimmen: Community, Wahlkampfplattform, Social Media, Facebook, Twitter. Wasserhövel „geht glatt als Politiker 2.0 durch: Der SPD-Bundesgeschäftsführer bloggt auf seiner Website, twittert als „Kajo2009“ und hat ein Facebook-Profil mit über 900 Freunden“, schreibt der Branchendienst turi2 am 6. April 2009 – und stellt ein Webvideo-Interview ins Netz, in dem Wasserhövel die Web-Plattformen als „zusätzlichen Informationskanal“ und „dynamischen Faktor“ bezeichnet, der in diesem Jahr „mächtiger, breiter und bunter“ werde.

Zu Beginn des Jahres erst ist spd.de, das Bundeshauptportal der Partei, neu zurechtgemacht ans Netz gegangen – und wurde beim Relaunch fast gesprengt, weil rund eine Million Leute zur gleichen Zeit neugierig waren, was die SPD im Netz macht (zum Vergleich: Normalerweise verzeichnet spd.de rund 500.000 Besucher im Monat). Wasserhövel, der als oberster Wahlkampfmanager auch für die Web-Strategie seiner Partei verantwortlich ist, nennt in dem Web-Interview das Vorbild Obama: „Da ist sehr viel Eigenaktivität entstanden und sehr viel Kreativität im Netz freigesetzt worden.“ Über Steinmeier, der bislang landauf, landab als sympathischer, integrer, aber doch eher dröger Apparatschik gilt, sagt Wasserhövel: „Das ist er nicht. Er ist sehr netzaffin“, und er sei ganz sicher, dass Steinmeier sich auch im Netz gegen Frau Merkel durchsetzen wird: „Da ist ‘ne Menge Musik drin“

Wasserhövel und seinen Beratern schwebt ein vielstimmiges Netz-Konzert vor, das auf allen Kanälen, offiziellen wie inoffiziellen, den SPD-Gospel verkündet: mit Videobotschaften, in Werbespots, mit Spendentools, einer gezielten Ansprache und Werbung in den Social Media, Suchmaschinenoptimierung, Online-Schulung der Kandidaten, per Twitter, und mit einem neuen, zentralen Kampagnenportal, das zunächst als Community geplant war, dann zu einem „Online-Journal“ umkonzeptioniert wurde, angeregt von der berühmten Weblog-Zeitung „Huffington Post“, die im Zuge der Obamania in aller Munde ist.

In die Tiefe des virtuellen Raums

Wie motiviert sind unsere Unterstützer auf Studi-VZ, Mein-VZ, Facebook? Einen Twitter-Versuch hatte ich aus Überdruss und Zeitmangel rasch abgebrochen: All jene Twitter- „Ichs“, die ich mir als Follower angeschafft hatte, damit ich meinerseits verfolgen könnte, was sie lasen, taten, dachten oder zu Mittag aßen gingen mir auf den Geist. Nun starte ich einen neuen Versuch, eine Fahrt ins Land der digitalen Netzwerke. Schon zu Beginn dieser Arbeit hatte ich mir ein Facebook-Konto angelegt, um mich im Steinmeier-Profil unterstützend als „Fan“ eintragen zu können. Diesen schlafenden Account wecke ich nun, opfere meine Skepsis gegenüber Facebook, gläserner Bürgerschaft, Datensammelei, Exhibitionismus, opfere meine kostbare Anonymität und Zwiespältigkeit sozusagen für die Sache – und gehe mutig da rein. Ins Netz. In die Tiefe des virtuellen Raums.

Ich werde Mitglied in der Gruppe „SPD – offizielle Fanseite“ und Unterstützer von diversen Genossen, die entweder wieder oder erstmals in den Bundestag streben, beziehungsweise Ministerpräsident werden wollen. Facebook macht einem die Sache ja eher leicht, schlägt Freunde vor, sortiert Daten, und ich versende, solchermaßen gleichsam an die Hand genommen, Freund-Anfragen an allerlei mir zu 99 Prozent unbekannte Menschen: Parteimitglieder, Kandidaten, Mitarbeiter in der Nordkurve, Sympathisanten, Jusos. Doch als erstes schicke ich eine Anfrage an einen Journalisten, der mir netzpostwendend – per „Sie“ – eine skeptische Rückfrage sendet: „Warum ich? Sie haben gerade mal drei Freunde?“ Ich erröte vor meinem Bildschirm und antworte, dass ich einfach seine Artikel schätzte, und dass ich doch gerade erst anfinge auf Facebook. Da akzeptiert er mich als Freund, wünscht mir noch „viel Spaß“. Die Genossen sind weniger wählerisch: Nach kurzer Zeit habe ich etwa 50 „Freunde“ und verliere dann bald die Lust am Freunde-Sammeln. Auch auf Angela Merkels Facebook-Unterstützer-Profil bin ich, wiederum ausschließlich im Dienste der Sache, ein „Fan“.

Salat und Kaffee in der Nordkurve

Man erfährt eine Menge: über die pünktlich zum Wochenende sich einstellende Erkältung eines Kollegen, die orthopädische Behandlung eines SPD-Politikers, gebrochene Finger von Grünen-Abgeordneten, Fahrradtouren von politisch engagierten Vätern mit ihren Töchtern an Flüssen entlang; ich lese, dass ein anderer Kollege aktuell damit beschäftigt ist, Salat zu essen und eine Nordkurven-Mitarbeiterin „dringend einen Kaffee“ braucht. „Dann hol dir doch einen“, lautet dazu der Kommentar, denn man kann die Statusmeldungen seiner „Freunde“ kommentieren. Ich erhalte aber auch interessante Links zu Zeitungsartikeln, Hinweise auf Fotos vom Straßenwahlkampf, Online-Umfragen, Gruppeneinladungen, Veranstaltungshinweise („Wirst du an dieser Veranstaltung teilnehmen? Ja, Nein, Vielleicht“) und insgesamt einen etwas anderen Blick auf die Parteibasis.

Unsere Strategie lautet informieren, vernetzen, aktivieren. Doch schon nach wenigen Wochen „Vorwahlkampf“ gibt es einen Dämpfer. Die bürokratisierten Abläufe im Willy-Brandt-Haus machen mir zu schaffen – Vermerke über Vermerke, formalisierte Gespräche, Einschluss und Ausschluss von Besprechungen, Intransparenz, Informationen als Karrierewaffen, die es geheim zu halten gilt, all die vielen Entscheidungsverzögerungen.

So vieles wäre möglich: Ich stelle mir eine Community-Seite vor, ein Kampagnen-Portal, das allen offen steht, das unsere Anhänger zum Mitmachen einlädt, das ihnen die Möglichkeit eröffnet, zu geben und das ihnen auch zurückgibt: „jedem nach seinen vernunftgemäßen Bedürfnissen“, wie es schon im Gothaer Programm von 1875 heißt – und jeder nach seinen Fähigkeiten? Die SPD entscheidet sich anders. Zuviel Community, zuviel Offenheit erscheint den Genossen offenbar als zu riskant. Man hat ja schon die Presse nicht unter Kontrolle, wie soll man da das wilde, freie Leben all der Blogger und Checker und Twitterer und Chatter im Netz im Griff haben?

Die Community frozelt

Immerhin landen wir einen ersten Coup: mit einem Online-Wettbewerb, der kreatives Potenzial und Image für die Partei abschöpfen soll, „Crowdsourcing“ nennen das Fachleute. Die jungen Kreativen innerhalb der Community werden aufgefordert, ein Signet für den Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier zu entwerfen. 350 Teilnehmer reichen ihre Ideen ein, zwölf davon sind – per Abstimmung ermittelt – die Favoriten der Community und erhalten ein gestaffeltes Preisgeld. Der SPD-Parteivorstand geht aber auf Nummer sicher und lässt es sich nicht nehmen am Ende seinen eigenen Favoriten auszuwählen. Steinmeiers Büroleiter Markus Engels schwärmt Ende März auf dem Kampagnenportal der SPD: „Schwer beeindruckt war ich, als ich mir die Ergebnisse ... angeschaut habe, ... ein Markenzeichen für unseren Kanzlerkandidaten in den Social Networks.“ Die Community selbst favorisiert ein Logo aus drei zackigen S-Buchstaben in den Farben der deutschen Flagge. Mir kommt es ein bisschen wie ein Entwurf für den Deutschen Sportbund aus dem Jahr 1972 vor. Die Kritiker der Kreativen im Netz sind strenger: Das Steinmeier-Signet erinnere an SS-Runen, schimpfen viele. „Frank-Walter Steinmeier tappt in die Crowdsourcing-Falle“, analysiert der Blogger Jürgen Siebert und prophezeit, dass es das Runen-Logo wohl nicht werden würde. Irgendwie scheint die Kampagnenleitung der gleichen Ansicht zu sein. Sie entscheidet sich für ein Signet, das die Anfangsbuchstaben von Steinmeiers Vornamen und darunter seinen Namen in fröhlichem Rot-Weiß zeigt. Die Community frotzelt weiter: Das neue Logo sei nur die billige Kopie des Markenzeichens der Joghurt-Firma Zott.

Die Nordkurve aber ist glücklich und sieht sich als „first mover“ weil sie als erste große Partei „Crowdsourcing“ eingesetzt hat – das sind so die Begriffe, an denen sich die Wahlkämpfer berauschen. Und dann wird der Kanzlerkandidat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands mit einem Logo „gebrandet“, das an einen Joghurt-Becher erinnert. Wahlkampf als Marketing, der Kandidat als Marke, Politik als Produkt. Ich bezweifle, dass das die richtigen Kategorien für eine Partei sind. Und mir kommt es vor, als gebe es einen Widerspruch zwischen diesen Versuchen, sich die Gesetze der Warenwelt zunutze zu machen und der Identität der SPD.

Europawahlkampf - am Wähler vorbei

Im Willy-Brandt-Haus verschwindet ein Mitarbeiter nach dem anderen aus dem Großraumbüro in Richtung 5. Stock, in den Jochen-Vogel-Saal. Ich sehe sie durch die riesigen getönten Glasscheiben die Treppe zwischen den Fahrstühlen hochsteigen. Das ganze Gebäude scheint aus Glas zu sein, überall sieht man die Genossen in ihren Büros am Schreibtisch sitzen, die Treppen hochsteigen, den Fahrstuhlknopf drücken. Transparenz. Wenigstens in der Architektur. „Was ist los?“, frage ich einen der Vorbeischlurfenden. „Generalansprache“, murmelt er. Es wird eine große Runde, eine richtige Versammlung: Ich schätze, dass in der Nordkurve über 200 Leute arbeiten. Sie alle hören sich im großen Saal an, wie Kajo Wasserhövel und Hubertus Heil ihnen, den „Hauptamtlichen“, den bezahlten Genossen, Mut zusprechen.

Die Sozialdemokratie wird gebraucht, versichert Hubertus Heil. Wasserhövel seinerseits macht keinen Hehl daraus, dass er die Wähler am liebsten – wie renitente Schüler, die beim Rauchen oder Abschreiben erwischt wurden – für ihr Fehlverhalten bestrafen würde. Man müsse den Leuten klar machen, dass sie ohne die SPD sich selbst und dem eigenen Land schadeten. Könnte genau diese pädagogisch-hierarchische Kommunikationshaltung ein Grund dafür sein, dass der Europawahlkampf am Wähler vorbeikommuniziert hat?

Schuld sind, so Kajo, die Medien, die die SPD auf Knien sehen wollen. Der politische Gegner, der die Partei im Staub sehen will. Die Rechten, die Neoliberalen, die Konservativen, die bürgerliche Presse, die Wills und Illners und Springers, die Gesamtheit der ungezogenen Journalisten auf der falschen Seite. Denn einen Glauben zumindest haben wir hier in der Nordkurve nicht verloren: Wir sind die Guten! Selbstkritik? Dazu ist der Druck zu groß. Auch für Kritik an Mitarbeitern wäre der Zeitpunkt falsch gewählt. Wir müssen dran glauben: Hier, in der Nordkurve, hat man alles richtig gemacht. Nur die dummen Wähler da draußen, die haben Mist gebaut. Die Führung schmollt also – und vergisst das Netz und die Basis. Heute, am Montag, steht nicht mal ein „Dankeschön“ oder ein „Ihr wart super!“ auf den Plattformen, als Streicheleinheit für die „Unterstützer“. Stattdessen liegen bis Dienstag nach der Wahl Netzleichen herum, Aufrufe zum Europa-Endspurt, veraltete Botschaften, die keiner mehr hören will, die nur noch peinlich wirken am Tag nach der Wahl, denn die Worte im Netz altern schnell, noch schneller im Wahlkampf. Spätestens Montagmorgen hätte der Inhalt ausgetauscht sein müssen, und das wusste man ja auch vor der Wahl, dass nach der Wahl eine neue Phase beginnt, auch im Netz. Warum ist da gar nichts passiert?

Monatealte Meldungen im Netz

Auf steinmeier.de, nur als ein Beispiel von vielen, steht immer noch „Neue Mehrheiten für Europa“, darunter zwei Monate alte Meldungen. Das hat nichts mit Internet zu tun, noch weniger mit Internet-Wahlkampf. Auch auf wahlkampf09.de steht nichts Neues, kein Unterstützer erhielt eine Trost- und Dankeschön-Mail. Nichts ist rausgegangen. Das muss ja wie eine Schockstarre ankommen – nach innen wie nach außen. Auch Nicht-Kommunizieren ist Kommunikation – und meistens nicht die beste. Nach der Wahl schreibt Spiegel Online: „Die Partei ist gelähmt. Nichts verdeutlicht dies am Montag besser als die Kampagnenplattform der SPD im Internet namens ,Wahlkampf 09‘. Zu den Ergebnissen der Europawahl vom Sonntag, bei der die Partei mit knapp 21 Prozent historisch schlecht abschnitt, findet sich bis um sechs Uhr am Nachmittag nichts – keine Analyse, keine Stellungnahme. Erst am Abend wird eine Durchhalteparole auf die Seite gestellt. Und das Kampagnenblog „Endspurt“ wird erst nach Erscheinen dieses Spiegel-Textes ersetzt durch ein Nach-Europawahl-Blog von Kajo Wasserhövel mit dem immerhin selbstkritischen Teaser: „Das Europawahlergebnis ist enttäuschend. Keine Frage. Vor allem in den entscheidenden letzten Tagen ist es uns nicht gelungen, ausreichend für diese wichtige Richtungswahl zu mobilisieren.“ Ironie der Wahlkampfgeschichte: Die Plakate draußen vor dem reizenden Betonparkhaus gegenüber dem Willy-Brandt-Haus sind schneller als das Internet, denn hier klebt schon ein „Danke“ auf blassblauem Grund.

„Du hättest das doch einfach einstellen können“, sage ich nachher zum Online-Chef. Er erschrickt. Dann hätte er „definitiv keinen guten Kontakt zu Kajo“, flüstert er. Dass es manchmal falscher ist, nichts zu tun, als Verantwortung zu übernehmen und ein Risiko einzugehen, will ihm nicht einleuchten. Jede Entscheidung in der Nordkurve muss durch zahllose Hände gehen, und die letzten zwei Augen, die drauf schauen, sind immer Kajos.

In der Manöverkritik geht es hart zur Sache. „Unprofessionell“ sei das gewesen, was die letzten zehn Tage gelaufen ist. Der ganze Unmut entzündet sich an einem gescheiterten Experiment: Nach amerikanischem Vorbild wurden die Unterstützer mit Nachrichten und Countdown-Mails noch am Tag der Wahl bombardiert. Das sei ganz schlecht angekommen bei den Genossen. Außerdem gab es Doppelmails und Mails, in denen Links fehlten oder nicht funktionierten; „Hubi“ war „supersauer“, weil sein Twitter-Account genutzt wurde ohne seine Freigabe, so dass er dann in Sitzungen sein mobiles Handy checken und feststellen musste, was er gerade angeblich getwittert hat… Die Verteiler seien „schmutzig“, also ungeordnet und überaltert (ein chronisches Problem), so dass zum Beispiel die Bundesgeschäftsführerin der Grünen und mehrere CDU-Leute eine Aufforderung zugeschickt bekamen, SPD wählen zu gehen. Doch das Schlimmste sei die fehlende Aktualität. Irgendwas müssten wir uns da einfallen lassen. Ich finde das beeindruckend. Mir scheint, hier hätte man am liebsten alles in Kästchen, die Zukunft durchgeplant – und dabei übersieht man, dass jede Tageszeitung, jedes Online-Informationsangebot dasselbe „Problem“ hat: Etwas passiert, und man muss reagieren. So ist das im Journalismus, und so ist das im Wahlkampf. Man kann versuchen, Themen zu setzen, Mantras zu sprechen, Inhalte zu implementieren, aber man hat weder die Medien noch die aktuellen Ereignisse und noch weniger die Zukunft unter Kontrolle. Also sollte man doch die eigenen Kanäle im Griff haben und optimal nutzen? Der Europawahlkampf ist auch online ein Desaster. Doch wenn die Freigabeprozesse so umständlich und langwierig, wenn die Kommunikation so sperrig und die Zuständigkeiten so unklar bleiben, wird das Hauptproblem ungelöst bleiben: „Kajo will alles sehen.“

Die Medienmaschine will Obama light

Wir brauchen ein Thema. Angela Merkel hat keins und braucht keins. Wir schon. Uns fehlt eine Geschichte, die wir erzählen können. Steinmeier hält die Stellung, und seine Standhaftigkeit nötigt durchaus Respekt ab, er bemüht sich, aber sexy ist das nicht, und eine Geschichte verweigert er aus mir unverständlichen Gründen. Die Wahlkampf- und Medienmaschine verlangt danach: Sie wollen den Messias, sie wollen ihn jetzt und ganz „authentisch“. Steinmeiers Pech: Sie wollen Obama light. Die Kanzlerin hat das längst begriffen, die spröde, kühle Frau aus dem Osten, mit ihren „teAMs“, ihren trockenen Video-Botschaften, die sie mit pompöser Plastikmusik unterlegen lässt, ihrer distanzierten Gewitztheit, ihrem überraschend wohlwollenden Porträt im Spiegel. Alexander Osang ist offenbar auch längst „übergelaufen“ und dem mächtigen Charme der Kanzlerin erlegen. Sie muss sich gar nicht groß bemühen, so scheint es, irgendetwas zu sein – sie ist ja schon. Bei ihr haben sich die Leute daran gewöhnt, dass es egal ist, warum. Dass es vielleicht egal sein muss, weil sie sich ohne diese strukturelle Gleichgültigkeit gar nicht da oben halten könnte, auf der Spitze des Eisbergs. Die sich selbst genügende Macht ist ihre größte Stärke. Und die spielt sie eiskalt aus. Sie braucht keinen Wahlkampf. Merkel wirkt unbesiegbar.

Dabei habe ich eigentlich das Gefühl, dass die Ära Merkel und all das 50er-Jahre-Remake, das Maßvolle, Enge, Graue, Todsichere, das sie mit sich brachte, im Grunde vorbei ist. Und damit auch ihre Art, Politik zu verwalten nach dem Motto „Hauptsache, es sieht ordentlich aus“. Viele in meiner privaten wie beruflichen Umgebung teilen dieses Gefühl, das hoffentlich nicht nur eine eitle Hoffnung ist, ein Frühlingsduften mitten im Sommer, das man aber politisch kommunizieren könnte: „Merkel hat sich überlebt.“ Mein Sohn hat neulich der Kanzlerin bei einem Event die Hand schütteln dürfen – und kam danach stark beeindruckt nach Hause. „Die hat ne komische Ausstrahlung“, erzählte er, „Merkel fällt auf, aber sie wirkt total abgeschirmt, total zu!“ Vor allem das Gesicht der Regierungschefin faszinierte meinen Sohn: „Die war voll fett geschminkt! Dickes Make-up, nicht die Augen, aber die Haut – alles zu!“ Ich finde, dadurch erfährt man mehr über Angela Merkel als durch noch so viele Zeitungsartikel. So viele Lobeshymnen all dieser von ihrer leisen Macht beeindruckten Reporter: Sie versteckt sich. Man sieht nicht, wie sie aussieht. Als wäre sie gar nicht (mehr) da. Das wäre eine Geschichte. Man müsste sie nur erzählen: Merkel ist vorbei. Der Sommer ist da. Und bevor der Herbst kommt, brauchen wir eine ungeschminkte Erneuerung. Und wer sollte diese Geschichte besser erzählen als der Spitzenkandidat der SPD

Die acht Ziele der SPD

Nach dem Europawahlkampf beginnt also die hektische Themensuche, als müsse man erst einmal neu überlegen, was die SPD eigentlich will. Diese Themensuche wird weitergehen. Man wird sich auf „Unsere acht Ziele“ festlegen, Löhne, Bildung, Klima, Familie, Frauen, Toleranz, Zügel für den Kapitalismus, Fortschritt, und diese acht Ziele werden unser Mantra werden: alles und nichts, wie gehabt. Denn: Was will sie? Was will Steinmeier? Er wirkt wie ein Mann, der ständig den Heiratsantrag verschiebt, weil er sich nicht sicher ist, ob er wirklich verliebt ist. Er wolle nicht „zurück in die schwarz-gelbe Bräsigkeit der 90er Jahre“. Aber das ist eine negative Standortbestimmung. Wo steht der Kandidat? Wofür? (Wann) kommt der gute Mann endlich mal aus der Deckung? Und macht „action“ im Netz? Andernfalls, fürchte ich, kann er sich seine Facebook-, Studi-VZ-, Mein-VZ-Accounts, seine „personalisierte Website“, seine Unterstützer-Mails in der dritten Person Singular, unterzeichnet vom „Wahlkampf-Team“ sparen. Die User riechen den Braten nämlich: Die SPD-Bürokratie ist auf dem besten Wege aus lauter Angst vor der Demokratie, vor den bösen Medien, vor den uneinsichtigen Bürgern und sogar vor den lästigen Genossen die gesamte Partei in die Knie zu zwingen. In Verbeugung vor dem Guru „Kontrolle“ und dem Guru „Politische Kommunikation“.

Smalltalk am Abgrund

Nach dem Kater ist vor dem Kater: Traditionell lädt die SPD die wichtigen Journalisten, die Mitarbeiter und die Bundesdelegierten ein, vor dem Bundesparteitag gemeinsam zu feiern. Der „Vorwärts“ organisiert den erweiterten Presseempfang im Umspannwerk, einer tollen „Location“ in der Ohlauer Straße 43, mitten im ärmsten Teil von Berlin-Kreuzberg.

Immerhin gibt es etwas zu essen: türkisches Buffet, Kuchen, Bier, Wein, Sekt, so viel man will – alles umsonst. Ein großer Springbrunnen sprudelt im Herzen des Umspannwerks, und ich frage mich, wie viele Partygäste hier einst schon betrunken ins Wasser gefallen sein mögen. Und um wie viele Betrunkene diese Zahl sich heute Abend erhöhen wird. Aber in der SPD geht man auf Nummer sicher, kurz nach acht Uhr wird das Wasser abgestellt. Könnte ja sein, dass jemand in 30 Zentimeter Tiefe ertrinkt – man weiß es nie!

Offizieller Beginn: 19 Uhr. Einlass: ab 18.30 Uhr. Ich treffe um 18.50 Uhr ein und bin viel zu früh. Es ist ziemlich voll, aber die hohen Herren sitzen noch im Parteirat.

Einer von ihnen hat eine neue Freundin. Und das ist heute Gespräch des Abends. Ich erfahre, dass eine Mitarbeiterin der Nordkurve extra für Michelle abgestellt wurde, Münteferings neue Liebe. Er will sie heute Abend offiziell vorstellen. Michelle Schumann ist in diesen Tagen eines der Lieblingsklatschthemen des politischen Berlins, vor allem, weil sie 40 Jahre jünger ist als der SPD-Chef. Dennoch: Die Frau ist durchaus volljährig, so dass ich mich frage, inwiefern man sich um sie „kümmern“ muss. Dieser Abend wird schwierig, weil ich nichts Konkretes zu tun habe und die Gedanken Karussell mit mir fahren – oder „Schlitten“, wie Müntefering gerne sagt, für den Fall einer schwarz-gelben Regierung: Dann würde Westerwelle mit Frau Merkel Schlitten fahren, sagt er. Ein niedliches Bild für wenig niedliche Aussichten.

Ein Kollege sagt etwas über die „super Location hier“. Ich versuche, mit irgendeinem weniger seichten Thema den Smalltalk fortzuführen, aber der Andere steigt nicht drauf ein, wendet sich ab, sobald es die Höflichkeit erlaubt. Oder bilde ich mir das ein? Misstrauen ist eine ansteckende Krankheit. Wahrscheinlich bin ich zu alt. Man muss zumindest so tun, als wäre man um die 30. Ich weiß nicht, wie die anderen das immer machen, das Spiel so gut gelaunt mitzuspielen. Kajo Wasserhövel sitzt auf der Treppe am Grill mit seinem Laptop und seinem müden Gesicht. Mein Mitgefühl mit ihm ist fast so groß wie mein Selbstmitleid. Egal, welche „Faktoren“ eine Rolle spielten bei der Europawahl – am Ende ist er es, der versagt hat, und er weiß es.

Könige und Prinzen, Lakaien und Mätressen

Die Partei-Bosse fahren erst gegen 20 Uhr mit Leibwächtern und Gefolge vor. Betreten das Gebäude von der anderen Seite, über den roten Teppich, beobachtet von Journalisten und Mitarbeitern. Steinmeier hält eine knappe, doch lahme Rede, Müntefering brüstet sich mit seiner neuen Freundin. „Ja, es gibt sie. Ja, sie ist hier. Und: Ja, wir mögen uns“, diktiert Müntefering in die Blöcke und Kameras. Die Medien kolportieren brav, suchen sich Genossen, die das doof finden, um schreiben zu können, dass der Parteichef dem Kandidaten mit diesem „Coup“ die Show gestohlen habe, blablabla. Ohnehin, so werde ich am kommenden Tag lesen, gebe es heftige innerparteiliche Kritik an Müntes „katastrophalem Erwartungsmanagement“ vor der Europawahl, und ich werde nicht wissen können, ob Spiegel Online oder der Tagesspiegel das selbst lanciert oder recherchiert hat.

Ich höre mit, wie man über den in der Krise wiederentdeckten „Markenkern soziale Gerechtigkeit“ spricht, nippe an meinem Glas. „Ein fragwürdiges Wort“, gebe ich ungefragt zu bedenken. „Kräuseln sich da nur mir die Haare? Das ist Marketingsprache!“ Die kleine Gruppe aus Werbern und Politiker-Mitarbeitern, in deren Gespräch ich mich eingemischt habe, grinst unsicher, nickt mir zu, setzt das Gespräch fort. Klingt dieser Begriff nur in meinen Ohren so falsch? Es wird, so scheint mir, der sozialen Gerechtigkeit nicht gerecht, als Markenkern herhalten zu müssen, als strategische Komponente, Verpackungsbotschaft für ein Produkt. So werden Werte zu Werbung: ent-wertet. Tickets to nowhere. Und die Verpackung übernimmt. So wird die Partei zum Produkt, macht sich selbst zur Ware. Das ist pure FDP! „Wer den Beweggrund einer Partei in Warensprache packt, verkauft sie. Meistbietend.“ Das sage ich nicht, denke ich nur. Und gebe mir wirklich und ehrlich große Mühe, weiter in die Gegend zu lächeln, auf der Suche nach jemanden, mit dem ich reden kann, ohne mich bei jedem Wort zensieren zu müssen, weil wir doch alle dasselbe wollen oder jedenfalls gemeinsam dasselbe nicht wollen: eine schwache SPD, schwarz-gelbe Sieger am 27. September. Es sind doch hier, mitten in der sozialdemokratischen Leistungselite, alle so überdurchschnittlich intelligent und gebildet und erfolgreich und beweglich und interessiert an Politik, Zukunft etc. Aber ich finde keinen, oder die anderen sind genauso sehr mit sich selbst beschäftigt wie ich mit mir oder suchen Gesprächspartner, die diesen semiprofessionellen, semipolitischen Abend erfolgversprechend machen, wobei sie allem Anschein nach unter „Erfolg“ etwas anderes verstehen als ich. Schließlich gebe ich auf, wandle über den roten Teppich nach draußen, weg von den Königen und Prinzen, den Lakaien und Mätressen, den empor gekrochenen Sekretärinnen, den Wichtigtuern in Rot und dem ganzen mit Döner und Weinblättern und Rotwein und Aufmerksamkeit und Oliven und Lippenstift und Schafskäse und Alkoholika wohlversorgten Apparat.

Ich gehe rasch an einem Obdachlosen vorbei zu meinem Fahrrad, ohne ihm eine Straßenzeitung abzukaufen, schließe das Schloss auf und rolle los, bloß weg hier, aus diesem wunderschönen sozialen und demokratischen Kreuzberg. Ich spüre etwas wie Trauer, weil dieses Kreuzberg zur Location degradiert wird und ich einfach nicht rauskriege, wie viele Kompromisse man machen muss und welche man trotzdem immer wieder in Frage stellen sollte. Weil das Richtige keinen Namen hat, nicht genannt werden darf und weil ich mit niemandem darüber reden darf, als wären alle in einer Blase gefangen, sektenähnlich, die Berliner Polit-Sekte prostet sich mit Sekt zu, und niemand piekst in die Blase.

Während es hinter mir, im Osten, langsam dunkel wird, der laue Vorsommerabend verlockend duftet, rieche ich nur faule Luft in der Nähe der „Macht“. Mit einem Mechanismus, den ich noch nicht durchschaue, werden Fragen verhindert, indem sie zwar munter gestellt werden dürfen, aber dann als „irrelevant“ behandelt werden. Um Sand im Getriebe auszuschließen, streuen sie ihn (sich) in die Augen. Und fragen auch selbst nicht: nach der Legitimation des eigenen Handelns, der Haltung, dem Warum, oder gar dem Sinn. Sie fragen immer nur, ob sie alles „richtig“ machen, oder nach dem Wohin, jedoch nicht als Richtungsbestimmung, sondern als Abstecken von Kilometersteinen, Zahlen, Benchmarks. Auch in der SPD, gerade hier, ist Affirmation immer noch erste Bürgerpflicht, trotz der Krise (oder umso mehr?). „Das wird heute so gemacht“, „Das ist heute so“, „Ohne das geht es nicht“, bekommt man zu hören.

Wendepunkt Zensursula

Es ist inzwischen so, dass wir alle mir leid tun. Wir waren so motiviert und euphorisch am Anfang! So stark! Begeistert-begeisternd! Wir haben uns den Willy-Brandt-Wahlkampf reingezogen, der alles, was später Online war, offline vorweggenommen habe, von Graswurzeln geschwärmt und von Obama. Und nun? Es ist, als gingen wir alle gebeugt.

Dabei ist draußen so viel Leben, so viel Bewegung, die man nur auffangen müsste. Eine Online-Petition sprengt alles bisher Dagewesene: Die Initiatorin, Franziska Heine, mobilisiert 130.000 Unterzeichner gegen die Netzsperre, die die SPD zusammen mit der Union am 18. Juni dennoch beschließen wird. Von der SPD-Fraktion stimmen 190 von 220 Abgeordneten dafür. Einer der Gegner, Jörg Tauss, wird kurz darauf aus der SPD aus- und in die Piratenpartei eintreten. Bei allen anderen scheint die Propaganda der Familienministerin im Verein mit dem Wirtschaftsminister nachhaltig zu wirken: Es gelingt ihr, alle Gegner der Netzsperre tendenziell in die Schmuddelecke zu stellen. Erschwerend für die SPD kommt hinzu, dass der Medienfachmann Tauss unter Verdacht steht, selbst mit Kinderpornografie zu tun zu haben. Der Fall Tauss schränkt die Handlungsfähigkeit der Partei ein – zusätzlich zu der Komplexität einer schwer zu vermittelnden Materie, deren Kenntnis auch bei den Bundestagsabgeordneten nicht sehr ausgeprägt scheint. Man sieht sich vor die Alternative gestellt, entweder eine Schmutzkampagne der Springerpresse in Kauf zu nehmen, weil man Kinderschändern nicht das Handwerk lege, andererseits ein Gesetz mitzuentscheiden, das nach sachlicher Erwägung nicht sinnvoll erscheint und dafür die Netzgemeinde gegen sich aufzubringen. Und entscheidet sich für dieses kleinere Übel.

Und die Netzgemeinde ist aufgebracht! Die Digital Natives sind wütend, dass jemand in ihrem angestammten Gebiet herumschnüffeln, in ihren Augen sinnlose Regeln aufstellen will, die ihre kostbare Freiheit beschneiden, ohne sich überhaupt im Land Internet auszukennen! Das ist in ihren Augen Missbrauch! Der Ton der Kritik wirkt oft schrill, übertrieben, beleidigt, und die Front steht fest: quer durch alle Social Media, Blogs, Twitter und so weiter, denn nicht nur „Linke“ empören sich auch Liberale und Grüne hatten gegen das Gesetz votiert.

Eine Gruppe um den Kreuzberger SPD-Direktkandidaten und Nachwuchslinken Björn Böhning versucht, auf dem Parteitag den Initiativantrag „Löschen statt Sperren“ auf die Tagesordnung zu hieven, der die Bundestagsabgeordneten dazu auffordert, gegen die Netzsperre zu stimmen – vergebens. Der Parteitag wird den Antrag nicht behandeln. Der Parteitag habe „geschickt dafür gesorgt, das Thema nicht zu behandeln“, meint denn auch Franziska Heine, Initiatorin der Online-Petition, gegenüber Zeit Online. Eine klare Entscheidung habe man so vermieden, die Chance dazu verpasst. „Sie und viele andere sind darüber enttäuscht.“ Enttäuscht? Die Netz-Gemeinde tobt. Die politischen Blogger verbreiten die traurige Kunde. Auf einer Demonstration der Piratenpartei am 20. Juni vor dem Willy-Brandt-Haus, zwei Tage nach der Bundestagsentscheidung, verkündet Jörg Tauss seinen Parteiaustritt: „Wir brauchen Piraten in allen Parteien … ich warte nicht länger auf die Internetkompetenz meiner Partei … verlasse ich heute meine SPD… nach fast vierzig Jahren.“ Beinahe kommen ihm die Tränen. Die Piratenpartei will ausdrücklich enttäuschten SPD-Mitgliedern die Chance geben, ein neues politisches Zuhause zu finden. „Wir tauschen SPD-Parteibücher gegen Mitgliedsausweise der Piratenpartei um“, bietet der Spitzenkandidat der Piratenpartei für Berlin, Florian Bischof, an. „Und für die, die länger keinen Blick mehr hineingeworfen haben, verteilen wir auch wieder Grundgesetze.“

Die SPD nimmt eine innere Spaltung in Kauf

„Die SPD ist DIE Internet-Partei“? Aus der Traum. Tauss tritt sozusagen stellvertretend für die bislang in vielen Teilen durchaus SPD-nahe Netzgemeinde aus der Partei aus. Und was macht die Nordkurve? Schweigen. Womit füttern wir die Internetseiten? Welche Informationen bieten wir den Suchenden? Welche Stellungnahmen? Keine. Diesmal nicht, weil es verschlafen wird, sondern weil man durch Wegducken den Ball flach halten will – den Ball, der längst in Nachbars Garten liegt. Die Grünen sind offensiver. Unter dem Motto „Wie erklärst du Opa das Sperrgesetz?“, sammelt gruene.de Alltagsbeispiele, was die Netzsperren in vergleichbaren Offline-Situationen bedeuten könnten.

Der Online-Beirat der SPD, ein freischwebendes Gremium, gibt am 17. Juni eine Stellungnahme ab, die dringend von der Zustimmung abrät. „Wir fordern die SPD-Fraktion auf, gegen das geplante Gesetz zu den Netzsperren („Kinderpornographiebekämpfungsgesetz“) zu stimmen.“ Doch das Gesetz passiert am 18. Juni den Bundestag. Der Online-Beirat legt seine Arbeit nieder. Und die SPD hat eine weitere innere Spaltung in Kauf genommen – und ein weiteres Glaubwürdigkeitsproblem, denn auch Fachleute zeigen große Bedenken. „Eine gravierende Änderung unserer Medienordnung“, analysiert der oberste Datenschützer Peter Schaar.

Eventuell, sagt man uns, lässt Steinmeier sich auf einen Videochat auf politik-digital.de ein, doch später hören wir nichts mehr davon. „Wir ziehen unsere Bataillone zurück“, lautet bis auf weiteres die Direktive. Offenbar will die Kampagnenführung ihren Flaschenhals noch enger machen, denn ein Video, munkelt man, sei ohne Freigabe auf dem Youtube-SPD-Videokanal aufgetaucht. Auch die allerletzte, die finalfinale Variante der iPhone-Anwendung habe Kajo nicht abgesegnet, bevor sie online beworben wurde. Jetzt ist die Nordkurve sauer.

Ich versuche, auch meine Bataillone ein Stück zurückzuziehen, doch es will mir nicht gelingen: Der Wahlkampf beschäftigt von morgens bis abends meine Gedanken, begleitet mich auf allen Wegen, sogar nachts träume ich von Kollegen, oder von Merkel und Steinmeier, und wenn ich aufwache, bin ich müde, wie zerschlagen, vergesse den Traum, und denke weiter nach über die aktuelle politische Lage und ihr „Personal“.

In den Sozialen Netzwerken baut Merkel ihren Vorsprung aus: Insgesamt haben Merkel und die CDU hier nun über 100.000 Unterstützer. Steinmeier und die SPD liegen indes bei gut 30.000. Auf Studi-VZ und Mein-VZ hat Guido Westerwelle Steinmeier vom zweiten auf den dritten Platz im Unterstützerzahlen-Ranking verdrängt. Die Grünen führen mit ihren Accounts bei Twitter und verzeichnen hohe Zuwächse. Auf Facebook hat Merkel mittlerweile fast 7.500 „Fans“. Guttenberg kommt aus dem Stand auf knapp 6.000, überholt Steinmeiers Profilzahlen um Längen.

Wasserhövel reagiert ungehalten

Wenn Kajo Wasserhövel von Journalisten zum Thema Internet befragt wird, reagiert er mittlerweile ungehalten. Am wenigsten mag Kajo Fragen, die die Worte „Obama“ oder „USA“ enthalten, doch das sind die häufigsten. Er antwortet dann zum Beispiel, dass er selbst im September 2008 in Chicago stundenlang mit Obamas Leuten gesprochen habe, ohne dass ein einziges Mal das Wort „Internet“ gefallen sei. Stattdessen sei es „um Sachfragen“ gegangen. Außerdem hätten acht Jahre Bush-Politik die Amerikaner extrem mobilisiert. Es sei auch nicht sein Job als Wahlkampfmanager, als ständiger Chat-Partner bei Facebook zur Verfügung zu stehen, und die Bereitschaft zum Engagement oder eine Stimmung in der Bevölkerung könne man eben nicht erzwingen. Von der emphatischen Aussage zu Beginn des Wahlkampfs vom Internet als „Herzstück des Wahlkampfs“ bleibt nur die Hülle, doch die klebt nun an ihm, obwohl er jetzt versucht, die Erwartungen ans Netz zu dämpfen – fast, als habe die SPD gar nicht so viel mit dessen Erfolg zu tun: „Ich bin selbst gespannt, was da aus der Tiefe des Raums kommt“, sagt Kajo mit Blick auf die Sozialen Netzwerke. Und klickt sich rasch wieder weg zur „realen Welt“, zum echten Engagement seiner Wahlhelfer im Wahlkreis Treptow-Köpenick, die für ihn und die SPD tausende Plakate klebten – ehrenamtlich, und gar nicht virtuell, sondern statt mit Tastatur mit Kabelbinder und Muskelkraft. Das werde unterschätzt, weil der öffentliche Fokus zu sehr auf den Online-Aktivitäten liege, während doch nach wie vor (wir ahnten es) „das persönliche Gespräch am wichtigsten“ sei.

Eine Glasglocke hält die Wirklichkeit fern

Mir dreht sich der Kopf von all den Botschaften, Flugblättern und Tageslosungen, die mich via Fernsehen, Zeitung, Blogs, Facebook und elektronische Briefkästen erreichen. Bei „Mindestlohn“ will mir immer nur „Mindestliebe“ einfallen, abseits von jeder politischen Forderung: Meine Konzentration lässt nach, ich komme mir immer mehr vor wie in einem Irrenhaus, dessen Insassen felsenfest glauben, dass die da draußen die Verrückten sind. Im Willy-Brandt-Haus kommt kaum einer offen auf den anderen zu, jede Geste wirkt kontrolliert. Man gewöhnt sich daran, vergisst zwangsweise jeden Morgen von Neuem, wie die Menschen da draußen, außerhalb der hauptberuflichen Politik, miteinander umgehen können: offen, freundlich, vertrauensvoll. Meine Kinder erinnern mich abends daran, wenn ich nach Hause komme, und wenn wir dann gemeinsam über irgendeinen Unsinn lachen, werde ich unvermittelt darüber traurig, dass die Nordkurve kein Treibhaus für gute Ideen, sondern für ungute Charaktereigenschaften ist. Eine Glasglocke, die die Wirklichkeit fernhält, zusätzlich gesichert mit einer dicken Eisschicht.

Ich frage mich, warum die Leute in diesem Politikapparat, von denen viele ja nun wirklich einiges auf dem Kasten haben und nicht zu den Dümmsten der Republik gehören, ihre Gedanken nur in der Freizeit aus dem Korsett nehmen. Sie überlassen das Emo-Soziale ihren Frauen oder beschränken es auf das private Bier unter Freunden und wirken damit als die perfekten Parteisystemstabilisatoren: Weil sie daran glauben, dass sie im Willy-Brandt-Haus das Richtige tun. Und weil sie glauben, dass Politik so funktionieren kann, sorgen sie mit dafür, dass sie nur so funktioniert.

Der Autor des Textes hat in der SPD-Wahlkampfzentrale gearbeitet. Um Nachteile für ihn zu vermeiden, muss er anonym bleiben.

http://www.freitag.de/wochenthema/0939-wahlkampf-spd-wahlkampfzentrale-insider