Karl Nolle, MdL

Financial Times Deutschland, 21.10.2009

Milliardenrisiko: Karlsruhe rüttelt an Hartz-IV-Sätzen

Die geltenden Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger drohen vor dem Bundesverfassungsgericht zu scheitern.
 
Die Richter des Ersten Senats äußerten in der mündlichen Verhandlung am Dienstag massive Zweifel, ob die Hartz-IV-Sätze für Kinder und Alleinstehende den Bedürfnissen der Empfänger gerecht werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat über drei Vorlagen des hessischen Sozialgerichtshofs zu entscheiden, der die Regelsätze für verfassungswidrig erklärt. Insbesondere wurde bemängelt, dass die Sätze für Kinder nicht eigenständig ermittelt werden, sondern von denen für Erwachsene abgeleitet werden. Kinder bekommen je nach Alter pauschal zwischen 60 und 80 Prozent des Regelsatzes für Erwachsene. Dieser liegt derzeit bei 359 Euro.
Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier kündigte eine umfassende Prüfung der Hartz-IV-Sätze an. Es gehe nicht nur um Kinder, sondern auch um die Sätze für alleinstehende Hartz-IV-Empfänger, betonte Papier.

Im Falle einer Korrektur durch das Karlsruher Gericht drohen der Bundesregierung womöglich Nachzahlungen in Milliardenhöhe. Nach Auffassung des Deutschen Caritasverbands müssten allein die Sätze für Kinder - je nach Altersgruppe - um 21 bis 42 Euro angehoben werden. Schon das würde die öffentliche Hand rund 750 Mio. Euro im Jahr kosten.

Prüfmaßstab für den Zweiten Senat des Verfassungsgerichts soll ein "menschenwürdiges Dasein" sein, sagte dessen Vorsitzender Papier. "Wir neigen dazu, die Entscheidung am materiellen Grundrecht von Artikel 1 des Grundgesetzes festzumachen."

Am Dienstag äußerten sich die Richter vor allem kritisch. Papier nannte die pauschal erhobenen Regelsätze "erklärungsbedürftig". Verfassungsrichter Brun-Otto Bryde fragte, ob bei den Hartz-IV-Sätzen nicht der individuelle Bedarf stärker berücksichtigt werden müsse. "Fehlt nicht eine Öffnungsklausel?", fragte Bryde.
Die Bundesregierung verteidigte das geltende Verfahren. Arbeitsstaatssekretär Detlef Scheele sagte, bei der Festsetzung der Sätze müssten auch jene berücksichtigt werden, "die das Fürsorgesystem mit ihren Steuern finanzieren". Der Rechtsvertreter der Bundesregierung, Stephan Rixen, nannte das bisherige Verfahren ein "schlüssiges empirisch-normatives Konstrukt".

Der Hartz-IV-Empfänger Thomas Kallay, der vor dem hessischen Sozialgerichtshof geklagt hatte, kritisierte in der Verhandlung die Erhebung der Regelsätze als "realitätsfern". Auf individuelle Bedürfnisse und Härten werde keine Rücksicht genommen. Kallay wies auf die Einschränkung durch die Regelsätze hin: "Wo bleibt denn die soziale Teilhabe, wenn man als dreiköpfige Familie nur 700 Euro im Monat zur Verfügung hat?"

Es ist das erste Mal, dass sich das Verfassungsgericht mit der Arbeitsmarkt- und Sozialreform der rot-grünen Bundesregierung beschäftigt. Bisher sind Hunderte Klagen an den Landesgerichten anhängig. Beim Bundesverfassungsgericht liegen derzeit etwa dreißig Verfahren. Ein Urteil wird Anfang des nächsten Jahres erwartet.
von Benno Stieber, Karlsruhe