Karl Nolle, MdL
DNN/LVZ, 03.11.2009
"Weggelacht und weggepfiffen" - Von Thomas Mayer
Erinnerungen an die große Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz
Leipzig/Dresden. Vor 20 Jahren erfuhr die deutsche Geschichte eine Zäsur. Die Friedliche Revolution in der DDR führte zum Untergang des SED-Regimes. Am 9. November 1989 fiel die Mauer, die Welt blickte auf die zwei deutschen Staaten und verfolgte den Weg zur Wiedervereiniging. In einer Serie erinnern wir an diesen historischen Umbruch, analysieren Ursachen und Folgen und stellen Regionen und Menschen vor, für die der Mauerfall dramatische Veränderungen brachte.
4. November 1989: Die Friedliche Revolution hat als Massenbewegung auch die Hauptstadt der DDR erreicht. Schauspieler der Berliner Theater haben zur Protestkundgebung auf dem Alexanderplatz aufgerufen. Die Reden - und das ist die eigentliche Sensation dieses Tages - überträgt das DDR-Fernsehen mehrstündig unzensiert live. Als Erste tritt Marion van de Kamp ans Mikrofon, das auf der Ladefläche eines LKW steht. Ihr folgen die Schauspielkollegen Ulrich Mühe und Jan Josef Liefers. Steffi Spira ergreift nach einigen Stunden als letzte Rednerin das Wort. Auch sie trägt dazu bei, dass an diesem Tag die DDR einen weiteren erstaunlichen Wandel erlebt. Das Volk jubelt, als sie sagt: "Aus Wandlitz machen wir ein Altersheim."
Friedrich Schorlemmer, damals Dozent am Evangelischen Predigerseminar, Prediger der Schlosskirche in Wittenberg und bereits am 21. August 1989 Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs, spricht auf dem Alex. 20 Jahre später erinnert er sich:"Dieser Tag war auch für mich ein ganz besonderer, weil ein wichtiger Tag auf dem Weg in die Freiheit. Diktatur begann sich in Demokratie zu transformieren. Die Herrschenden wurden einfach weggelacht und weggepfiffen." Er sieht und hört noch heute, wie sich Stasigeneral Markus Wolf und SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski als redegewandte Wendehälse outeten.
Mit der Alleinherrschaft der SED war es laut Schorlemmer vorbei: "Die Partei wurde auf dem Alex delegitimiert." Der Theologe sagte damals zu den Hunderttausenden: "Und zu uns aus der neuen demokratischen Bewegung möchte ich sagen: Setzen wir an die Stelle der alten Intoleranz nicht neue Intoleranz. Seien wir tolerant und gerecht gegenüber den alten und neuen politischen Konkurrenten, auch einer sich wandelnden SED. Ich meine, wir wollen und wir können unser Land jetzt nicht ohne die SED aufbauen. Aber sie muss nicht führen." Schorlemmer steht auch heute zu seinen Worten. An jenem 4. November sei doch von deutscher Wiedervereinigung noch keine Rede gewesen, zudem seien von 16 Millionen DDR-Bürgern 2,3 Millionen in der SED gewesen.
Große Worte fallen. Der Schriftsteller Stefan Heym redet: "Mitbürger, es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Welche Wandlung!" Demokratie, so der alte Dichter, sei ja ein griechisches Wort und heiße Herrschaft des Volkes: "Üben wir sie aus, diese Herrschaft."
Die Schriftstellerin Christa Wolf tritt auf: "Mit dem Wort Wende habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe da ein Segelboot. Der Kapitän ruft ,Klar zur Wende!', weil der Wind sich gedreht hat oder ihm ins Gesicht bläst. Und die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt. Aber stimmt dieses Bild noch? Stimmt es noch in dieser täglichen vorwärtstreibenden Lage? Ich würde von revolutionärer Erneuerung sprechen."
An diesem Sonnabend wird Geschichte geschrieben. Dafür ist nicht zuletzt der Schriftsteller Christoph Hein zuständig: "Ich denke, unser Gedächtnis ist nicht so schlecht, dass wir nicht wissen, wer damit begann, die übermächtigen Strukturen aufzubrechen, wer den Schlaf der Vernunft beendete. Es war die Vernunft der Straße, die Demonstrationen des Volkes. Ohne diese Demonstrationen wäre die Regierung nicht verändert worden, könnte die Arbeit, die gerade erst beginnt, nicht erfolgen. Und da ist an erster Stelle Leipzig zu nennen. Wir haben uns an den langen Titel ,Berlin - Hauptstadt der DDR' gewöhnt, ich denke, es wird leichter sein, uns an ein Straßenschild ,Leipzig - Heldenstadt der DDR' zu gewöhnen. Der Titel wird unseren Dank bekunden."
Ans Mikro auf dem LKW tritt die Brecht-Enkelin Johanna Schall, damals Schauspielerin am Deutschen Theater. An den 4. November erinnert sie sich in einem jetzt gerade geschriebenen Gedicht, dass heute in dieser Zeitung zum ersten Mal publiziert wird.
Der Dramatiker Heiner Müller kommt zu Wort. Er ist aufgeregt, bekämpft die Nervosität, vor so einem gewaltigen Auditorium reden zu müssen, mit Wodka. Müller verliest einen Aufruf der Initiative für unabhängige Gewerkschaften und sagt zum Schluss "ganz persönlich": "Wenn in der nächsten Woche die Regierung zurücktreten sollte, darf auf Demonstrationen getanzt werden."
Noch vor dem Mauerfall ist es so weit: Am 7. November tritt der DDR-Ministerrat zurück, am 8. November gibt auch das SED-Politbüro auf.
der 4. november
von Johanna Schall
so viele erinnerungen, echte und manche, die sich nur als echt ausgeben.
was ich weiß:
daß es ein euphorischer tag war, disziplin und anarchie in eintracht.
daß ich glücklich bin, dabei gewesen zu sein.
daß ich keinerlei vorahnung oder wissen hatte, was darauf folgen würde.
daß an diesem tag der spruch "wir sind das volk" hieß.
daß ich nie wieder so viele wunderbar stolze deutsche gesehen habe.
daß ich wünschte, dieses wäre der stolz, von dem die rede ist, wenn einer stolz ist,
ein deutscher zu sein.