Karl Nolle, MdL

spiegel online, 15.11.2009

SPD-Parteitag - Die Genossen beschwören das Willy-Gefühl

Aus Dresden berichtet Christian Teevs
 
Die SPD sucht den Hoffnungsträger und findet ihn in der Vergangenheit. Der Parteitag in Dresden gerät zur Willy-Brandt-Show. Sehnsüchtig erinnern sich die Sozialdemokraten an ihr Idol - und schöpfen aus der Rückschau neues Selbstbewusstsein.

Dresden - Zum Abschied erhält der scheidende Parteichef ein Ölgemälde. Jahrelang hing es zuvor in seinem Büro, daher hält sich Franz Münteferings Überraschung in Grenzen. Doch nun geht es von der SPD in seinen Besitz über. Und das Bild ist für Müntefering etwas Besonderes, es zeigt seinen Vorgänger - Willy Brandt, den großen Sozialdemokraten, nach dem die Parteizentrale in Berlin benannt ist. Müntefering bekommt das Porträt beim Parteitag in der Dresdner Messehalle aus den Händen von Andrea Nahles. Sie ist nun Generalsekretärin.

Das hatte er 2005 noch verhindert. Doch in diesem Moment wirken die 39-jährige Nahles und der 30 Jahre ältere Müntefering versöhnt. Das Bild von Brandt steht zwischen ihnen, wirkt wie Kitt zwischen den Parteirivalen. Es ist eine von vielen Brandt-Reminiszenzen des Parteitages.

Sie haben wesentlichen Anteil daran, dass die drei Tage in Dresden kein neues Kapitel des Buches "Die SPD zerlegt sich selbst" begründen werden. Nach der Bundestagswahl am 27. September war die Partei am vorläufigen Tiefpunkt angekommen - 23 Prozent, das schlechteste Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik.

Nicht wenige erwarteten vor dem Wochenende ein Scherbengericht, eine Abrechnung mit der Regierungspolitik von Müntefering, Altkanzler Gerhard Schröder und dem gescheiterten Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier.


Doch dem neuen Parteichef Sigmar Gabriel gelang es mit einer glänzenden Rede, geschickter Parteitagsregie und der Verbindung von Traditionen und Visionen die große Mehrheit der Delegierten versöhnlich zu stimmen. Wie in einem Sitzkreis waren die Delegierten um das Podium gruppiert. Der Parteitag hatte bezeichnenderweise kein Motto, über dem Präsidium prangten lediglich die Worte "Sozialdemokratische Partei Deutschlands".

50 Jahre nach dem Godesberger Programm und 40 Jahre nach der Wahl von Willy Brandt zum Kanzler der sozialliberalen Koalition bediente die neue Führung die Sehnsucht der Partei nach Harmonie, linken Grundwerten und Traditionen. In seiner Rede am Freitagabend nannte Gabriel gleich zehnmal den Namen von Brandt, der in der SPD innig geliebt wird.

Die Generation der 45- bis 65-jährigen Funktionäre und Mitglieder ist durch den legendären Parteivorsitzenden politisch sozialisiert worden, der kürzer Kanzler war als Gerhard Schröder - von 1969 bis 1974. Viele steckten sich damals "Willy wählen"-Buttons an die Jacken und waren ergriffen von seinem Leitmotiv "Mehr Demokratie wagen".

"Die politische Mitte Brandts war etwas ganz anderes"

Gabriel kritisierte, dass es ein "großes Missverständnis", einen "Irrglaube" darüber gegeben habe, "was eigentlich die politische Mitte in Deutschland ist". Seit 20 Jahren gebe es das Gespenst der neuen Mitte, jeder reklamiere sie für sich, ohne zu wissen, wofür sie stehe.

Die Worte richteten sich gegen den Kurs von Schröder, der 1998 den Anspruch auf die neue Mitte erhoben hatte. Gabriel sagte: "Die politische Mitte Willy Brandts war etwas ganz anderes. Sie war kein fester Ort, sondern sie war die Deutungshoheit in der Gesellschaft." Brandt habe Fragen und Antworten geliefert, die "emanzipatorisch, aufklärerisch und damit eben links waren".

Und der neue Vorsitzende fuhr fort: "Die Mitte war links, weil wir sie verändert haben (...) und das müssen wir wieder machen." Die Delegierten jubelten, die Sätze von Gabriel überzeugten selbst Skeptiker des Machtmenschen - und die Worte fußten alle auf der Erinnerung an Brandt. Nach elf Jahren an der Regierung, den unangenehmen Reformen von Hartz IV und der Rente mit 67 sehnte sich die Partei nach linker Rhetorik - ein wenig Herz statt des technokratischen Stils der letzten Jahre.

Und nicht nur Gabriel bediente dieses Bedürfnis. Selbst Müntefering gelang ein versöhnlicher Abschied. Der scheidende Parteichef zeigte bei seiner Rede ein wenig Demut und griff Brandts Motto von 1969 auf: "Mehr Demokratie wagen Teil zwei ist fällig." Auch Andrea Nahles forderte eine Rückbesinnung auf die Partei-Legende: "Wir haben zuletzt nur darüber geredet, wie die Menschen leben müssen." Brandt habe dagegen immer gefragt: "Wie wollen wir leben?"

Fast die gleichen Worte wählte am Sonntag der Parteiveteran Erhard Eppler. Sein Vortrag geriet zu einer Motivationsveranstaltung. Eppler zitierte den liberalen Denker Ralf Dahrendorf, der einmal sagte: "Die Sozialdemokraten werden an ihren eigenen Erfolgen zugrunde gehen." Weil sie sich mit der Umsetzung ihrer Ziele überflüssig machten. "Selbst wenn das einmal gestimmt haben sollte, es stimmt längst nicht mehr. Die Sozialdemokratie wird in der Krise dringender gebraucht denn je." Dafür bekam Eppler fast so viel Applaus wie Gabriel.

Die Sozialdemokraten wollen gebraucht werden, wollen mitbestimmen. Es scheint paradox: Viele in der Partei haben die Opposition herbeigesehnt, um die linke Identität zurückzuholen. Doch in der Nische der Beschäftigung mit sich selbst wollen sie auch nicht verschwinden.

Eppler sagte, die Stimmung vor dem Godesberger Parteitag 1959 sei jener vor Dresden ganz ähnlich gewesen. Auch damals lag die SPD abgeschlagen hinter der Union - "und es war ungewiss, ob wir jemals würden regieren können". Nach sieben weiteren Jahren Opposition traten die Sozialdemokraten unter Vizekanzler Brandt in eine Große Koalition ein. Drei Jahre später wurde er Kanzler einer Regierung mit der FDP.