Karl Nolle, MdL

SPIEGEL Nr. 53, Seite 64, 31.12.2009

"Bürokratische Hydra" - Kluft zwischen Arm und Reich vertieft.

Fünf Jahre nach dem Start von Hartz IV ist die Bilanz zwiespältig.
 
Die rot-grüne Agenda 2010 hat viele Jobs geschaffen, aber die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Eine Reise zu Gewinnern und Verlierern der umstrittensten Sozialreform der Nachkriegszeit.
Von Katrin Elger und Michael Sauga

Henrico Frank rasiert sich nicht. Jedenfalls nicht regelmäßig. In seinem Gesicht wuchert ein Zehntagebart, fettiges Haar hängt ihm über die Augen.

Manchmal denkt er darüber nach, so in eine Talkshow zu gehen, gemeinsam mit dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck, seinem erklärten Feind. Erst kürzlich hatte auch ein Fernsehsender die Idee, den ehemaligen SPD-Chef und den früheren Arbeitslosen gemeinsam vor die Kameras zu holen. Beck hatte keine Zeit. "Ist klar", sagt Frank. "Der müsste ja sonst zugeben, dass er sich damals danebenbenommen hat."

Damals, im Dezember vor drei Jahren, war Frank auf dem Wiesbadener Weihnachtsmarkt angetrunken auf den seinerzeitigen SPD-Chef zugesteuert, zwei Kumpels im Schlepptau. Frank zu Beck: "Ihrer Partei haben wir Hartz IV zu verdanken, und ich bin arbeitslos. Was sagen Sie dazu?"

Beck schaute auf und antwortete: "Wenn Sie sich waschen und rasieren, dann haben Sie in drei Wochen einen Job."

Der Streit machte den gebürtigen Thüringer kurzzeitig zum berühmtesten Erwerbslosen Deutschlands und löste eine erregte Debatte aus. Die einen ärgerten sich über die Arroganz der Mächtigen. Die anderen entrüsteten sich über das Anspruchsdenken der Arbeitslosen. Keine 30 Sekunden hatte der Wortwechsel gedauert, aber er legte den Kern der gesamten Hartz-IV-Kontroverse bloß: Darf die Regierung verlangen, dass sich Arbeitslose mehr anstrengen müssen?

Drei Jahre später steht Frank in seinem Büro beim Frankfurter Fernsehkanal iMusic TV, wo er seit 2007 als Punk-Experte beschäftigt ist. Frank hat einen Rucksack geschultert und blickt zufrieden auf sein "geordnetes Chaos", wie er es nennt. Papierberge türmen sich zwischen drei Computern. Ein Marmeladenglas ist randvoll mit Kippen gefüllt. Es müsste dringend mal gelüftet werden.

"Das ist alles authentisch Punk hier", sagt Frank. Er arbeitet jetzt jeden Tag von 9 Uhr morgens bis 18 Uhr abends, aber er fühlt sich weiter als Rebell, auch in Sachen Hartz-Gesetz. Von einer politischen Sauerei spricht er, einer Attacke der Mächtigen auf die Ohnmächtigen. "Es hat mich total angenervt, dass uns gerade die SPD so einen Scheiß eingebrockt hat."

Fünf Jahre ist es her, dass mit dem "Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" die letzte einer ganzen Reihe von Sozialreformen des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder in Kraft getreten ist. Die Arbeitslosenhilfe wurde abgeschafft, Zeitarbeit und Minijobs wurden liberalisiert, die Sozialämter mit den Arbeitsagenturen zusammengelegt.
Doch bis heute streiten die Deutschen, was sie vom umfassendsten Sozialumbau der Nachkriegsgeschichte halten sollen. Die Hartz-Gesetze haben den Arbeitsmarkt in Schwung gebracht, sagen die Befürworter. Sie haben die Armen ärmer gemacht, sagen die Gegner.

Sicher ist, dass die Reformen der Agenda 2010 die Republik so tiefgreifend verändert haben wie kaum eine andere politische Neuordnung zuvor. Sie haben Schröder das Amt gekostet, die Sozialdemokratie in eine Existenzkrise gestürzt und den Aufstieg der Linkspartei befördert.

Mehr als sechs Millionen Deutsche müssen jetzt zum "Jobcenter" oder in die "Arge", wenn sie eine Fortbildung oder eine Schultüte für ihren Erstklässler haben wollen. Im Osten gingen vor dem Hartz-IV-Start Hunderttausende auf die Straße. Es waren die ersten Massenproteste nach der Wende.

Seither ist die Zahl der Jobsuchenden republikweit um gut eine Million gesunken, und der Beitrag zur Nürnberger Arbeitslosenversicherung hat sich mehr als halbiert. Die Deutschen aber fragen sich, ob der Preis dafür nicht zu hoch war. Die Hartz-Gesetze bewirkten nicht nur, dass Arbeitslose seither so gut wie jeden Job annehmen müssen. Sie blähten auch den Niedriglohnsektor auf, der an manchen Stellen plötzlich aussah wie der wüsteste Frühkapitalismus.

Die Deutschen hörten von Zimmermädchen, die sich für 3,56 Euro die Stunde verdingten, und von Arbeitskämpfen, in denen Zeitarbeiter als Streikbrecher eingesetzt wurden. Vor der Reform galt die Regel, dass der Lebensstandard eines Arbeitslosen von seiner vorherigen Beschäftigung abhängt. Heute wird die Stütze in der Regel nach zwölf Monaten auf das Existenzminimum gekürzt.
Das war das Neue und Brisante an der Reform: Um den jahrzehntelangen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu stoppen, wurden Jobsuchende unter Druck gesetzt wie nie zuvor. Sie müssen nachweisen, dass sie sich um Jobs bemühen und dass sie bereit sind, jederzeit an sogenannten Eingliederungsmaßnahmen teilzunehmen. Weigern sie sich, wird ihre Unterstützung gekürzt, mitunter auf null. "Fördern und fordern" nannten das die Reformer.

So wurde Hartz zur Chiffre für kalte, herzlose Politik. Keine andere Reform hat so viel Hass in der Bevölkerung geschürt, keine andere die politische Klasse derart verunsichert. Aus Schröders Agenda-Drama haben die Parteistrategen von links bis rechts gelernt, über unpopuläre Reformen lieber nicht mehr zu reden.
Sie reden jetzt lieber über Wohltaten, auch bei Hartz IV. SPD-Chef Sigmar Gabriel forderte vergangene Woche, langjährig Versicherten länger Arbeitslosengeld I zu zahlen. Die CDU kündigte an, die Zuverdienstregeln für Arbeitslosengeld-II-Empfänger zu verbessern.

Waren die Hartz-Gesetze also ein Fehler? Die Frage ist vor allem deshalb so schwer zu beantworten, weil die Reformen Gewinner und Verlierer produziert haben - und weil die beiden Gruppen oft gar nicht so leicht zu unterscheiden sind.
In einem tristen Konferenzzentrum unweit des Berliner Reichstags hat das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit zu einem Workshop geladen: "Fünf Jahre Grundsicherung für Arbeitsuchende - eine Bilanz". Auf den Holzstühlen im Saal sitzen Fachleute aus Ministerien, Verbänden und der Anti-Hartz-Bewegung. Am Rednerpult steht ein kleiner Mann mit grauem Anzug, grauer Krawatte, grauen Haaren: Joachim Möller, Ökonom und Institutsdirektor.
Er hat einen Computer dabei, der an einen Projektor angeschlossen ist. So kann er die Kernbotschaften seines Vortrags per Mausklick an die Stirnwand werfen. Es sind positive Botschaften. "Zwischen Juni 2006 und Juni 2009 ist die Zahl der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen um 519 000 zurückgegangen." Klick. "Die Zahl der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen unter 25 Jahren hat im selben Zeitraum um 236 000 abgenommen." Klick. "Die Integration von Langzeitarbeitslosen hat sich deutlich verbessert." Klick.

Möller redet jetzt schon 30 Minuten. Es wird Zeit für ein Fazit. Er sagt: "Die Relation von Arbeitslosen zu offenen Stellen hat sich deutlich verbessert."
Im Saal meldet sich der Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbunds zu Wort. "Kann es sein", fragt er, "dass Ihre Bilanz etwas einseitig ausgefallen ist?" Der Beschäftigungszuwachs, von dem die Rede gewesen sei, bestehe überwiegend aus Minijobs und Niedriglohnstellen. Der Gewerkschafter blickt triumphierend durch den Saal. "In Wahrheit ist das eine Katastrophe. Desaströs."

Möller rückt seinen Papierstapel zurecht. Er braucht jetzt eine überzeugende Antwort. "Die Lebenszufriedenheit von Menschen mit einer Erwerbstätigkeit ist deutlich höher als die von Erwerbslosen", sagt er. "Das zeigen alle Untersuchungen."

Wenn Möllers Untersuchungen stimmen, müsste einer wie Matthias Jacobi zufrieden sein. Der Schulabbrecher aus dem niedersächsischen Nörten-Hardenberg hat nach langer Arbeitslosigkeit wieder einen Job gefunden. Seit drei Monaten verdient er sein Brot als Lagerhelfer in einer Spedition. Aber Jacobi ist nicht zufrieden. Ganz und gar nicht.

Der Grund ist sein Arbeitgeber, nicht der, bei dem er die Paletten stapelt, sondern der, bei dem er seinen Arbeitsvertrag hat: eine Personal-Service-Agentur. Jacobi ist Leiharbeiter. Und als Leiharbeiter, sagt er, "wirst du von vorn bis hinten ausgenutzt".

Jacobi trinkt schwarzen Kaffee in einer Bäckerei im benachbarten Northeim. Sein vierjähriger Sohn turnt in der Spielecke. Jacobi muss auf ihn aufpassen, bis die nächste Schicht beginnt.

Er arbeitet tageweise von 4 Uhr morgens bis 12 Uhr mittags und von 15 Uhr bis 22 Uhr. Das sind keine günstigen Zeiten für einen Familienvater. Aber das stört ihn nicht. Was ihn stört, ist, dass er als Leiharbeiter schlechter behandelt wird als seine festangestellten Kollegen.

Er muss Überstunden machen, bis auch der letzte Lkw ausgeladen ist, während die anderen nach Hause gehen dürfen. Und die Überstunden werden angerechnet auf Zeiten, in denen er nicht vermittelt werden kann. Jacobi findet das ungerecht.

Eigentlich schließt die Hartz-Reform solche Unterschiede aus. Für Leiharbeiter und Stammpersonal müssen die gleichen Bedingungen gelten, heißt es im Hartz-Gesetz. Ein einleuchtendes Prinzip. Doch nur zwei Sätze später hebt es der Gesetzgeber wieder auf. Der Grundsatz gelte nicht, heißt es da, wenn sich die Tarifpartner auf etwas anderes einigten. Die Hartz-Reformer hatten der Zusicherung von Arbeitgebern und Gewerkschaften vertraut, die Bedingungen in ihrer Branche selbst in Ordnung zu bringen.

Das war ein Fehler. Die Tarifpartner sorgten nicht mal für ein Mindestmaß an Ordnung, sondern für ein Höchstmaß an Unordnung. In der Zeitarbeitsbranche gibt es zwei zerstrittene Gewerkschaften und drei konkurrierende Arbeitgeberverbände. Auf einen Mindestlohn können sie sich seit Jahren nicht einigen, dafür wetteifern sie mit Dutzenden Flächen- und Haustarifverträgen um das niedrigste Verdienstniveau. Den Nachteil haben die Beschäftigten. Jahrelang stagnierten ihre Löhne, mitunter fielen sie sogar.

So ist es mit vielen Neuerungen der Hartz-Gesetze: Die Reformer wollten den Arbeitsmarkt von überflüssigen Vorschriften befreien, aber nun gibt es mitunter überhaupt keine Regeln mehr. Sie wollten das Einstellen erleichtern, stattdessen regten sie zur Kündigung an. Sie förderten Lohnsenkungen, aber sagten nicht, wo die Grenze dafür liegen soll.

Die Unternehmensgruppe Piepenbrock ist einer der Marktführer im deutschen Reinigungsgewerbe. Die Putzkräfte säubern Büros und Fabriken, Klinikstationen und die Flure öffentlicher Verwaltungen. Das Unternehmen macht einen Umsatz von 365 Millionen Euro jährlich und beschäftigt über 25 000 Mitarbeiter, viele davon im Niedriglohnbereich.

Auf dem Papier müsste der Konzern eigentlich einer der Gewinner der Agenda-Gesetze sein. Doch Unternehmenschef Arnulf Piepenbrock sagt: "Die Hartz-Reformen haben uns eher Nachteile gebracht." Piepenbrock ist ein drahtiger Typ mit dicker Hornbrille und kantigem Kinn. Er steht in der Empfangshalle seiner Osnabrücker Firmenzentrale und schimpft über einen Kernpunkt der Arbeitsmarktreform, den die Berliner Politik gern als "Beschäftigungswunder" feiert: den Ausbau der Minijobs.

Piepenbrock kann kein Wunder erkennen. Er sieht nur "einen großen Irrtum".
Es geht schon damit los, dass die meisten Deutschen denken, Minijobs seien für die Arbeitgeber billig. "Stimmt aber nicht", sagt Piepenbrock. Für eine Vollzeitkraft muss er 20 Prozent Sozialbeiträge zahlen, für Minijobber werden 30 Prozent fällig.

Besser stellen sich dagegen die Arbeitnehmer. Sie brauchen überhaupt keine Steuern und Beiträge abzuführen, vorausgesetzt, sie verdienen nicht mehr als 400 Euro. Liegt der Lohn aber nur um einen Euro höher, werden gleich auf die gesamte Summe die gesetzlich festgelegten Abgaben erhoben.

So wird Arbeit zum Verlustgeschäft. Piepenbrock hat sich die Zahlen von seiner Personalabteilung ausrechnen lassen. Eine Putzfrau, die 49 Stunden im Monat arbeitet, geht mit 392 Euro nach Hause. Arbeitet sie 61 Stunden, bekommt sie 368 Euro. 24 Euro weniger Lohn für zwölf Stunden mehr Arbeit. "Haben Sie eine Idee, wie wir unsere Mitarbeiter bewegen sollen, eine Stelle mit höherer Stundenzahl zu übernehmen?"

Neulich hat er es trotzdem versucht. Konzernweit hat Piepenbrock seinen 11 000 Minijobbern angeboten, in ein reguläres Arbeitsverhältnis zu wechseln. Nur sechs Prozent wollten mitmachen.

Natürlich weiß der Unternehmer, dass auch viele Arbeitgeber mit den Teilzeitstellen ein Geschäft machen. Sie drücken die Abgaben einfach ihren Beschäftigten auf und lassen ihre Teilzeitkräfte nebenher schwarzarbeiten. Taxis, Gaststätten, Einzelhandel: In vielen Dienstleistungssektoren kürzten die Unternehmen ihre Lohnabgaben so auf nahe null.

In Piepenbrocks Gewerbe geht das nicht. Dort gilt, anders als in vielen anderen Branchen, ein Mindestlohn, den die Zollbehörden genauestens kontrollieren. Völlig zu Recht, findet der Unternehmer.

Es gehört zur Tragik der Hartz-Reformer, dass sie mit ihrer Teilzeitförderung das Gegenteil dessen bewirkten, was beabsichtigt war. Sie wollten neue Jobs - und bestraften die Fleißigen. Sie wollten die Schwarzarbeit bekämpfen - und förderten die illegale Beschäftigung.

Piepenbrock benutzt jetzt häufig ein Wort, das sonst eher von Gewerkschaftern zu hören ist: "Lohndumping".

Ludwig Stiegler steht unter einer kreisrunden Deckenleuchte im Eichensaal des Berliner Wirtschaftsministeriums. Der frühere Vizechef der SPD-Fraktion trägt eine graue Stoffmütze und einen roten Pullunder. Er ist sein Markenzeichen. Vor sechs Jahren trug er auch einen, als er an exakt diesem Ort den wahrscheinlich wichtigsten Auftrag seiner Karriere erfüllte: Die Hartz-Reform war nach monatelangen Debatten im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat gelandet. Ein Kompromiss musste her. Stiegler sollte ihn aushandeln.

Um einen 20 Meter langen Konferenztisch gruppierten sich die Delegierten - links die Vertreter von SPD und Grünen, rechts die Mitglieder von CDU und CSU. Am Kopfende saßen die Verhandlungsführer: der ausgewiesene SPD-Linke Stiegler und der rechtskonservative hessische Ministerpräsident Roland Koch.

"Ausgerechnet Sie", sagte Stiegler. "Ausgerechnet Sie", sagte Koch. Die beiden grinsten, als stünde ihnen ein großer Spaß bevor.

Was folgte, war ein erbittertes Gefeilsche. Über die eigentlichen Kernpunkte der Reform, die Leistungskürzungen für Arbeitslose, hatten sich Union und SPD längst geeinigt.

Jetzt stritten sie um ein Thema, das für die Bürger nebensächlich, für die mächtige Sozialbürokratie des Landes aber zentral war: die Organisation der Arbeitsverwaltung.

Es ging um Zuständigkeiten und Finanzverteilung, Personalschlüssel und Aufsichtsstrukturen. Vor allem aber ging es um eine Frage, die in der föderalen Bundesrepublik noch immer jede andere überlagert hat: Wer hat das Sagen?
Die SPD wollte, dass die Nürnberger Bundesagentur für Arbeit die 420 neuen regionalen Jobcenter steuern sollte. Die Union plädierte für die Vorherrschaft der Kommunen. Eine klare Entscheidung war gefragt. In weniger als zwölf Monaten sollte die komplizierteste Behördenfusion seit der deutschen Einheit starten.
Doch der Vermittlungsausschuss ist kein Gremium für klare Entscheidungen. Er muss Kompromisse finden, auch wenn es in Wahrheit nur Formelkompromisse sind. Im Fall von Hartz IV hieß der Formelkompromiss "Arbeitsgemeinschaft".
Er bestimmte, dass keine der beiden Behörden das Sagen bekam. Sie sollten sich einigen, irgendwie. Zur Not, so regelt es etwa Paragraf 44b SGB II, müsse eben das Los entscheiden.

Es kam, wie es kommen musste. Je näher der Starttermin für die Reform rückte, desto klarer wurde, dass die neue Verwaltung in wichtigen Fragen restlos überfordert war. Die Behörden führten eine Software ein, die nicht funktionierte. Sie verteilten Fragebögen, die niemand verstand. Sie verschickten Bescheide, die voller Fehler waren.

Vor zwei Jahren erklärte das Bundesverfassungsgericht die neue Hartz-Verwaltung sogar für grundgesetzwidrig. Bis heute haben die Politiker keine Lösung gefunden. "Wir wollten schlagkräftige Behörden schaffen", sagt Stiegler, "aber wir bekamen eine bürokratische Hydra."

Noch in einem zweiten Punkt verkalkulierten sich die Reformer. Als sie ihr Konzept entwarfen, setzten sie auf einen baldigen Aufschwung. Das höhere Wachstum würde ein neues Jobwunder auslösen, so lautete der Plan, und die Zumutungen der Reformen überdecken.

Das Problem war nur: Es kam kein Aufschwung, es kam die Fortsetzung der Krise. Anfang 2005 dümpelte die Konjunktur noch immer an der Nulllinie, jeden Tag gingen Tausende sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze verloren. Und den Opfern drohte, laut Gesetz, binnen Jahresfrist der Absturz auf Hartz IV.
Die Kombination aus Behörden-Wirrwarr und Abstiegsängsten wurde zur toxischen Mischung für die SPD. Erst wandten sich die Gewerkschaften ab, dann die Mitglieder, schließlich die Wähler. Hartz IV wurde nicht nur deshalb zum Ausgangspunkt für den beispiellosen Niedergang der Sozialdemokratie, weil die Reform der eigenen Klientel kaum zu vermitteln war, sondern auch weil die Regierung entscheidende Fehler machte: Die Reform kam zu spät und wurde in zu vielen Punkten einer kompromissunfähigen Bürokratie ausgeliefert.

Stiegler hat sich wieder seine Stoffmütze aufgesetzt. Er steht jetzt dort, wo er den Kompromiss mit Roland Koch besiegelt hat, damals im Dezember 2003. "Hartz IV war ein Wettlauf gegen die Zeit", sagt er, "den wir nicht gewinnen konnten."
Die Frau mit der verrücktesten Hartz-IV-Karriere Deutschlands sitzt in einem Café im sachsen-anhaltinischen Aschersleben und schüttelt den Kopf. Von der Arbeitslosen zur Bundestagsabgeordneten und zurück: Elke Reinke kann nicht erkennen, was daran so Besonderes sein soll. Sie rührt in ihrem Milchkaffee und redet sich ihre wilde Achterbahnfahrt klein wie ein Fußballtrainer die letzten Heimniederlagen: "Am Ende hat ein Quäntchen Glück gefehlt."

So hätte sie es gern, aber so ist es nicht. In Wahrheit ist die Geschichte der gelernten Elektrotechnikerin aus dem Mansfelder Land exemplarisch für die Geschichte der gesamten Anti-Hartz-Bewegung im Osten: für ihren Aufstieg und ihren Niedergang und für die Bedenkenlosigkeit, mit der sie politisch instrumentalisiert wurde.

Die Geschichte beginnt, wie viele Ostgeschichten beginnen: mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch nach der Wende. Reinke verliert ihren Job als Ingenieurin in einem Metallbetrieb. Es folgen Arbeitslosigkeit, Umschulung, ABM. Sie schreibt Hunderte Bewerbungen, findet aber keinen Job.

Dann kommt Hartz IV und verwandelt den Frust in den neuen Bundesländern in Wut. Als Reinke liest, dass die Hartz-Reform sogar den Besitz von Datschen in Frage stellt, beschließt sie mit einigen Gleichgesinnten, dass etwas geschehen muss.

Im Winter 2003, als Ludwig Stiegler und Roland Koch über Bedarfsgemeinschaften und Optionskommunen verhandeln, organisiert sie die erste Montagsdemo auf dem Ascherslebener Holzmarkt. Erst kommen 30 Leute, dann 300, dann 3000. Reinke tritt der neugegründeten WASG bei, die der Hartz-IV-Aktivistin einen Listenplatz für die Bundestagswahl verschafft.

Womit niemand gerechnet hat, geschieht: Reinke schafft den Sprung in den Bundestag. Sie geht zu ihrer Arbeitsagentur und meldet sich ab. "Wer ist denn Ihr neuer Arbeitgeber?", will der Sachbearbeiter wissen. "Das deutsche Volk", erwidert sie.

Reinke ist in diesem Moment ganz oben. Die Medien feiern sie als "Frau von der Straße", RTL will eine Doku-Soap über sie drehen, sie tritt in Talkshows auf und stellt verblüfft fest, dass sogar CDU-Politiker inzwischen Korrekturen an Hartz IV verlangen.

Aber sie bemerkt nicht, wie in ostdeutschen PDS-Seilschaften immer öfter gegen sie gestichelt wird. Von schwachen Auftritten im Parlament ist die Rede, von mangelnder Kommunikation mit dem Landesvorstand, von "Betroffenenpolitik". Ist sie nicht eigentlich, so wispern Genossen, immer eine Hartz-IV-Empfängerin geblieben?

Im Frühjahr fällt sie bei der Aufstellung der Landesliste durch. Im September scheitert sie mit dem Versuch, bei der Bundestagswahl ein Direktmandat zu gewinnen. Es fehlen 2681 Stimmen.

Ihre Gegner in der Magdeburger Parteiführung atmen auf. Ihnen ist der Protest-Rigorismus der ganzen Hartz-IV-Bewegung schon lange ein Dorn im Auge. Sie wollen endlich regieren. Sie wollen an die Macht. Sie wollen weg vom Image der Arbeitslosenpartei.

Reinke ist jetzt wieder da, wo sie schon einmal war. Sie sucht einen Job, trifft sich jeden Montag mit 40 Gleichgesinnten zur Hartz-Demo und hofft auf ein politisches Comeback, vielleicht sogar bei der nächsten Bundestagswahl. "Wenn die Partei es will", sagt sie, würde sie "wieder antreten" - und noch einmal von vorn anfangen.

Michaela Kirschberger braucht nicht mehr von vorn anzufangen. Sie hat es schon geschafft. Die gelernte Schneiderin sitzt in ihrem Kasseler Atelier auf einem weinroten Samtsofa. Seit zwei Jahren entwirft und fertigt sie dort Korsetts. In ihrem Laden lassen sich modebewusste Damen einschnüren, Transvestiten und Männer mit Figurproblemen. Das Geschäft läuft bestens.

Sie sagt: "Ohne die Starthilfe der Arbeitsagentur hätte ich das nicht geschafft."
Kirschberger rutscht direkt nach ihrer Ausbildung in Hartz IV. Aber sie will dort nicht bleiben. Sie beschließt, sich selbständig zu machen. Ihr Konzept legt sie Banken vor. Alle lehnen ab. "Welche Bank", fragt sie, "gibt schon einer Hartz-IV-Empfängerin Kredit?" Dann hört sie von einem Programm der Arbeitsförderung Kassel, das zinslose Darlehen an Langzeitarbeitslose vergibt, die Unternehmer werden wollen. Kirschberger stellt sofort einen Antrag. Das Programm folgt einer Idee von Peter Hartz, jenem schillernden VW-Manager, der einen großen Teil der schröderschen Reformen konzipiert hat und später verurteilt wird, weil er Betriebsräte seines Konzerns mit Lustreisen und Bordellbesuchen bei Laune gehalten hat.

Das Programm hieß Ich AG und wurde verspottet wie kaum ein anderer Bestandteil der Hartz-Reformen. Selbst in der Chefetage der Arbeitsverwaltung rümpft man die Nase. Selbständige fördern? Die zahlen ja hinterher nicht mal Beiträge.

Tatsächlich ist das Programm einer der größten Erfolge der Reform. Es wurde ein paar Mal überarbeitet, aber die Grundidee ist geblieben. Seither haben sich
mehr als eine Million Arbeitslose nach dem Hartz-Plan selbständig gemacht.
Je nach Förderart, so ermittelte das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, haben bis zu 70 Prozent der Unternehmen überlebt. Jeder fünfte Hartz-Gründer beschäftigt mittlerweile statistisch zwischen 1,7 und 2,6 eigene Angestellte.

Auch Kirschbergers Studio hat solch ein kleines Beschäftigungswunder produziert. Eine weitere Damenschneiderin ist bei ihr eingestiegen, sie stellten regelmäßig Praktikantinnen an, eine von ihnen will demnächst eine Filiale in Dresden gründen. "Irgendwie haben wir alle von der Hartz-Reform profitiert", sagt Kirschberger.

Der Mann, der diese Reform geplant, verteidigt und durchgesetzt hat, steigt aus einer schwarzen Limousine vor der Universität in Bayreuth. Es ist kurz vor Weihnachten, das Thermometer zeigt minus 7,5 Grad. Schnellen Schrittes eilt Gerhard Schröder über die dünne Schneedecke, vorbei an frierenden Studenten und einem Glühweinstand.

Der Audimax der Hochschule ist bis zum letzten Platz gefüllt. Der frühere Bundeskanzler geht zum Rednerpult und setzt seine Brille auf. Er soll die sogenannte Weihnachtsvorlesung halten. Das Thema: "Deutschlands Herausforderung und Chancen in einer globalisierten Welt".

Eigentlich müsste Schröder jetzt über die Agenda 2010 reden, seine wichtigste innenpolitische Tat, die er stets mit den "Herausforderungen der Globalisierung" gerechtfertigt hat. Aber in dem 13-seitigen Manuskript, das an die Zuhörer ausgeteilt wurde, taucht das Wort Hartz nicht ein einziges Mal auf. Dort geht es um die Finanzkrise, die wirtschaftliche Stellung Asiens und das iranische Atomprogramm.

Das passt Schröder nicht. Irgendwo zwischen Neuverschuldung und Minarettestreit schert er aus und spricht doch über das zentrales Projekt seiner Kanzlerschaft, das die Republik bis heute spaltet und bei dem, trotz seiner vielen Schwächen, unter dem Strich das Positive überwiegt.

Es war richtig, die Sozialämter mit den Arbeitsagenturen zusammenzulegen, die staatlichen Ausgaben für die Erwerbslosigkeit zu senken und das Prinzip "Fördern und fordern" durchzusetzen. Es war falsch, der neuen Bürokratie keine klaren Strukturen vorzugeben und im Niedriglohnsektor das Recht des Stärkeren zu fördern. Wer sagt, dass jeder Job zumutbar ist, muss auch dafür sorgen, dass die Jobs zumutbar sind.

Nötig ist deshalb nicht das Zurückdrehen der Hartz-Reformen, sondern ihre Weiterentwicklung. Es geht um vernünftige Mindestlöhne für alle, faire Regeln für die Zeitarbeit und eine Neuordnung der Minijobs, damit sich Leistung wieder lohnt. Es geht darum, Hartz IV zu retten. Schröder weiß das. Er weiß, dass die Schlacht um sein gewagtestes Projekt noch nicht gewonnen ist, dass er weiterkämpfen muss, gerade in diesen Tagen, in denen das letzte Gesetz fünf Jahre alt wird.

Schröder sagt: "Das war ein Prozess, der viel Kraft gekostet hat, gelegentlich schmerzhaft, vor allem aber notwendig und erfolgreich war." Er frage sich, wie das Land wohl durch die jüngste Rezession gekommen wäre ohne Agenda. So sei das nun mal mit großen Reformen: "Es gibt eine zeitliche Lücke zwischen notwendigen Entscheidungen einerseits und den positiven Wirkungen andererseits."

Schröder hat jetzt wieder dieses Raubtiergesicht, genau wie damals, als er den Funktionären der Gewerkschaft ÖTV sein "Basta" entgegenschleuderte. "Wir mussten verkrustete Strukturen aufbrechen", sagt er. Das sei nötig gewesen.