Karl Nolle, MdL

SPIEGEL Nr. 04/2010, Seite 68, 03.02.2010

KARRIEREN: Zyklus des Vergessens

Investmentbanker Claus Wilsing führte die Sachsen LB und die Apothekerbank ins Finanzcasino, was beiden zum Verhängnis wurde. Nun berät er die EU-Kommission - bei Hilfen für Banken.
 
Im weihnachtlichen Skiurlaub in Saalbach-Hinterglemm hatte er sich ein bisschen gelangweilt. Doch Anfang Januar stand Investmentbanker Claus Wilsing dann endlich wieder mitten im Weltgeschehen - in Dubai auf der Eröffnungsparty des weltgrößten Wolkenkratzers Burdsch Chalifa.

"Sehr beeindruckend" fand Wilsing, wie die Feuerwerker aus allen Etagen des über 800 Meter hohen Gebäudes den nächtlichen Himmel in Brand schossen. Geschäftspartner vom örtlichen Staatsfonds hatten ihn zu dem Spektakel eingeladen. Zusammen mit dem Team seiner Dubliner Fondsverwaltungsfirma AC Capital Partners durchleuchtet er derzeit die problematischen Wertpapierbestände der Scheichs.

Wilsing, einer der schillerndsten deutschen Spieler im Monopoly mit strukturierten Finanzprodukten, ist seinen Wurzeln treu geblieben - er hat nur die Seiten gewechselt.

Als Top-Manager der Sachsen LB und der Deutschen Apotheker- und Ärztebank (Apobank) hatte Wilsing gleich zwei Provinzbanken den direkten Weg ins globale Finanzcasino geebnet, was später beiden Instituten zum Verhängnis wurde. Nun bewerten ausgerechnet seine Leute den Schutt, den das Finanzbeben hinterlassen hat. Nicht nur in Dubai verdient AC Capital Partners mit der Vergangenheitsbewältigung, sondern nun auch in Brüssel - als offizieller Berater der EU-Kommission bei der Beurteilung von Staatshilfen für Banken.
Befördern da etwa gerade Brüsseler Bürokraten einen Brandstifter zum Feuerwehrmann? Warum fallen Banker derart weich, die einst zu den größten Profiteuren des globalen Kreditwahns gehörten?

Wilsing versteht solche Fragen nicht. "Mir ist kein grober Fehler unterlaufen", sagt er leicht gereizt, aber auch er sei kein Hellseher.

Der Sohn eines ehemaligen ZDF-Korrespondenten, Nadelstreifenanzug, rote Krawatte, eine schwere Rolex am Handgelenk, sitzt im Restaurant des mondänen Kurhauses in Wiesbaden. Er erzählt viel und gern von zu tiefen Zinsen, mageren Renditen und schuldigen Rating-Agenturen. Er beherrscht das Finanzhandwerk, lautet die Botschaft.

Im hochverschuldeten Emirat, erzählt Wilsing von seiner jüngsten Reise, seien die Investoren sehr konservativ, "es herrscht keine Goldgräberstimmung". Aber bald werde sich diese "Wait and see"-Haltung auch wieder ändern, und es werde wieder angegriffen, davon ist er überzeugt: "Das ist der Mensch, die Vergessenszyklen der Beteiligten werden immer kürzer."

Wilsing macht da keine Ausnahme. Der Größenwahn des klammen Wüstenstaats ist eine Kulisse, vor der er gern spielt. In seiner Karriere zogen ihn schon immer Orte magisch an, wo mächtige Männer die Gesetze des vermeintlich schnellen Geldes der Wall Street beherrschen wollten, aber damit maßlos überfordert waren. Sie konnte der sprachgewandte Kosmopolitendarsteller leicht beeindrucken.

Im Leipzig des Jahres 1998 reichte es fast aus, dass Wilsing fließend Englisch sprach. Der damalige Chef der Sächsischen Landesbank holte den vermeintlichen Jungstar von der DGZ Bank, der heutigen DekaBank, in den Osten.

Wilsing hielt es dort nicht lange. Um das Kapitalmarktgeschäft mit Profis bestücken zu können, forcierte er die Gründung einer Bank in einer Steueroase. Die Sachsen LB Europe (SLBE) mit Sitz in Dublin sollte sein Meisterstück werden.

Bald hing das Mutterhaus im strukturschwachen Ostdeutschland am Tropf der irischen Tochter. Wie deren Gewinne zustande kamen, wollte in Leipzig offenbar niemand so genau wissen. Hauptsache, sie kompensierten die Ertragsschwäche im steinigen Heimatmarkt.
 
Wilsing war plötzlich unverzichtbar. Und das nutzte er aus. Als er 2003 mit dem Abgang drohte, gestatteten ihm seine geschockten Chefs nicht nur, nebenher eine eigene Fondsgesellschaft - AC Capital Partners - zu gründen, sie gaben ihm auch 400 Millionen Euro Spielgeld.

Wilsing baute das Geschäft in Dublin weiter aus. Er installierte zwei Briefkastengesellschaften, mit denen er außerhalb der Bankbilanz den Kauf milliardenschwerer Hypothekenpakete kurzfristig finanzieren konnte. Seine Vorgesetzten übernahmen dafür die komplette Haftung - eine gefährliche Vollkaskoversicherung, wie sich später herausstellen sollte.

Ab 2005 erkannte sogar Wilsing die Kapitalschwäche der Mutterbank und versuchte, seine Chefs zu überzeugen, die Dubliner Tochter an eine Großbank zu verkaufen - freilich nicht uneigennützig. Im Gegenzug sollte er dort in den Vorstand gehievt werden, so der Geheimplan.

Der clever eingefädelte Karrieresprung scheiterte. Die Spitze der Sachsen LB klammerte sich an ihren wichtigsten Gewinnbringer, sie wollte die Tochterbank SLBE nicht hergeben.

Also disponierte Wilsing kurzerhand um und verkaufte der Düsseldorfer Apobank die Mehrheit an seiner privaten Fondsgesellschaft AC Capital Partners. Dafür kassierte er mehrere Millionen und durfte ab 2006 endlich den ersehnten Vorstandsposten einnehmen - neben dem 60-jährigen Chef der verstaubten Standesbank. Wilsing hatte wieder mal einen Altherrenbanker mächtig beeindruckt.

Nur wenige Wochen nach Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2007 musste die Sachsen LB an die Landesbank Baden-Württemberg notverkauft werden. Wilsing schaute sich das Debakel bequem von weitem an. Im folgenden Untersuchungsausschuss des Sächsischen Landtags trat er entsprechend unbescheiden auf. "Ich kenne keine Bank, die mit so wenig Eigenkapital ein so großes Rad gedreht hat", tönte Wilsing vor den Parlamentariern. Die "explosionsartige" Ausweitung der Dubliner Geschäfte nach seinem Abgang sei ihm "vollkommen schleierhaft". Da sei man wohl "ein bisschen zu unkritisch auf der Risikoseite, aber zu ehrgeizig auf der Ertragsseite" gewesen.

Doch war Wilsing daran wirklich so unbeteiligt, wie er damals vorgab?

Tatsächlich haben seine Nachfolger gravierende Fehler gemacht, die ihm wohl nicht unterlaufen wären. Dennoch gibt es Zweifel an der Unschuldsbeteuerung.
Laut internem Risikobericht kämpfte die Sachsen LB im August 2007 mit drei gefährlichen "Klumpenrisiken". Neben den Liquiditätsgarantien für die beiden milliardenschweren Finanzungeheuer in Dublin nannten die Risiko-Controller auch die Eigenkapitalinvestitionen in "die LAAM-Fonds mit bis zu 525 Millionen Euro". Diese mit zusätzlichen Krediten aufgeblasenen Fonds waren vollgepackt mit riskanten Hypothekenpapieren im Gesamtwert von beinahe zehn Milliarden Euro.

Was die Risiko-Controller nicht schrieben: Die Fonds verwaltete AC Capital Partners. Wilsing ist bis heute Verwaltungsratsvorsitzender des Unternehmens und hält immer noch 20 Prozent der Aktien.

Das Schicksal der Sachsen kümmerte ihn wohl wenig. Als designierter Nachfolger des Apobank-Chefs kämpfte er im Sommer 2007 auch mit anderen, emotionaleren Problemen. Der Mann von Welt vermisste das mondän-lässige Leben des angelsächsischen Geldadels. Die Zeiten der Jagden im schottischen Hochland waren endgültig vorbei.

Wilsing fühlte sich plötzlich wie ein Frühstücksdirektor. Nun musste er auch am Wochenende die Bank repräsentieren, 50. Geburtstage von Direktoren kassenärztlicher Vereinigungen feiern und sich "bis drei Uhr morgens an der Bar die Trauerarien über schlechtbezahlte Mediziner anhören", erzählt ein Insider.
Ende 2008 war Schluss. "Mein Vertrag lief nach drei Jahren aus", begründet Wilsing heute seinen Abgang und wirkt dabei irgendwie befreit.

Die Befreiung beruht aber wohl auf Gegenseitigkeit. Das System Wilsing hinterließ in der Bilanz Spuren. Nach der Übernahme von AC Capital Partners hatte sich die Bank mit riskanten LAAM-Fonds regelrecht vollgesogen. Sie mussten inzwischen restrukturiert und mit Darlehen am Leben erhalten werden. Über 200 Millionen Euro unterlassene Abschreibungen lauern noch in den Büchern.

Der Gesamtbestand an hochkomplexen Finanzprodukten schnellte in der Ära Wilsing auf über fünf Milliarden Euro hoch. Vieles davon stammte aus der Giftküche in Irland. Vorstand Wilsing belieferte sich mit AC Capital Partners sozusagen selbst, auch wenn "mögliche Interessenkonflikte ausgeschlossen waren, weil nur der Gesamtvorstand Investitionsentscheidungen absegnen konnte", sagt Wilsing.

Offenbar gab es einige Fehlentscheidungen. Kurz vor Weihnachten stellte der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken eine Garantie über 200 Millionen Euro bereit, um die Apobank zu stützen.
Wilsing guckt sich das Desaster schon wieder aus der Ferne an. Niemand habe mit LAAM-Fonds sein "investiertes Kapital verloren", verteidigt er sich, bislang seien das nur Buchverluste.

EU-Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes stört die durchwachsene Performance der AC-Truppe offenbar nicht. Um die Hilfe von Mitgliedstaaten für taumelnde Banken prüfen zu können, will sie "in Einzelfällen Sachverständigengruppen zu Rate ziehen", heißt es in der Beschreibung des millionenschweren Auftrags für die "Beurteilung staatlicher Beihilfen im Hinblick auf die Bewertung wertgeminderter Aktiva" - zu Deutsch Giftmüllanalyse.

Zwei Expertenrunden galt es in Brüssel zu besetzen. AC Capital Partners schaffte es in beide Zirkel. "Das war ein sehr hartes Auswahlverfahren", erzählt Wilsing, der schon an der nächsten Geschäftsidee bastelt. Inflationsfest muss sie sein. Deshalb sammelt er Immobilien mit befristeten Mietverträgen. Die kann man an die Teuerungsrate anpassen. So kaufte er kürzlich in Frankfurt ein sogenanntes Boarding House, wo Geschäftsleute für ein paar Monate Apartments mieten.

In Deutschland will Wilsing "nicht mehr in einen Bankvorstand zurück". Das Verhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat sei verpestet, trotz 14-Stunden-Tag und wenig Gehalt müsse man sich auch noch dauernd rechtfertigen. "Das ist eine unfrohe Veranstaltung, das passt nicht zu mir."
BEAT BALZLI