Karl Nolle, MdL

Süddeutsche Zeitung, 17.05.2010

Deutschland lebt unter seinen Verhältnissen

Die Spekulanten sind schuld an der Eurokrise,und die Bundesrepublik ist ein Opfer? Alles Märchen!
 
Aus der Wahrnehmung der deutschen Politik wie des deutschen Stammtischs sind die Schuldigen der Eurokrise schnell ausgemacht. Zum einen sind es die bösartigen Spekulanten, die es sich zum Ziel gesetzt haben, den Euro zu zerstören. Zum anderen sind es die Mitgliedsländer in Südeuropa, die nicht nur bei der Haushaltspolitik geschlampt, sondern zugleich ihre Löhne viel zu stark erhöht haben. Deutschland ist bei alledem das unschuldige Opfer, das seit Beginn der Währungsunion alles richtig gemacht hat und jetzt riesige Milliardenbeträge zur Stützung der anderen Länder aufwenden muss.

Bei dieser Sichtweise ist klar, wie der Euroraum wieder genesen kann: Alle Länder müssen so tugendhaft werden wie wir. Das Problem müsse an der Wurzel angepackt werden, sagte die Kanzlerin, die Länder müssten ihre Staatsfinanzen in Ordnung bringen und sich um eine bessere Wettbewerbsfähigkeit bemühen.

Doch wie würde ein Euroraum mit 16 Deutschländern aussehen? In den vergangenen zehn Jahren war die deutsche Wirtschaftspolitik darauf fixiert, die Lohnkosten möglichst gering zu halten. Dies führte dazu, dass die Arbeitnehmer nicht mehr am Anstieg des Wohlstandes teilhaben konnten und die Ausgaben im Inland - preisbereinigt - nicht mehr zunahmen. Natürlich schlug sich das in einem enormen Exportboom nieder, die Ausfuhren stiegen real um bis zu 70 Prozent. Im finanziellen Sektor führte die Kombination aus Knauserei und Exportweltmeistertum zu einer riesigen Geldersparnis, die zwangsläufig im Ausland angelegt wurden musste. Seit Beginn der Währungsunion gab Deutschland - ausweislich seines Leistungsbilanzsaldos - 895 Milliarden Euro weniger aus, als es einnahm. Wir lebten als Volkswirtschaft also nicht über, sondern wie kaum ein anderes Land unter unseren Verhältnissen.

Durch ein kollektives Gürtel-enger-Schnallen in die Knie gehen

Eine Währungsunion mit 16 Deutschländern wäre ein Albtraum. Gingen alle Mitgliedsländer dazu über, ihre Löhne nicht mehr zu erhöhen oder sie sogar zu senken, um so wettbewerbsfähig wie wir zu werden, würde der Euroraum geradewegs in die Deflation steuern. Diese Tendenz würde noch verstärkt, wenn alle auch noch versuchen würden, weniger auszugeben, als sie einnehmen, um genauso viel Geld zu sparen wie Deutschland. Das kann in der Summe nicht aufgehen, der Euroraum würde durch ein kollektives Gürtel-enger-Schnallen so in die Knie gehen, dass am Ende überhaupt keine nennenswerte Geldersparnis mehr möglich würde.

Das heißt allerdings nicht, dass sich alle Länder nun an den Beispielen Griechenlands, Irlands oder Spaniens orientieren sollten. Für den finanzpolitischen Schlendrian Griechenlands kann es keine Entschuldigung geben. Und in den südeuropäischen Mitgliedsländern sind - ebenso wie in Irland - die Löhne stärker gestiegen, als es von der Produktivität und dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank her angemessen gewesen wäre. Das hat der Wettbewerbsfähigkeit geschadet und zu einer überzogenen Verschuldung geführt. Der Euroraum wird nur dann ins Gleichgewicht kommen, wenn sich seine Mitgliedsländer überwiegend so verhalten, dass sie mittelfristig in etwa das ausgeben, was sie einnehmen. Ein Musterbeispiel hierfür ist Frankreich, das seit Jahren eine stetig steigende Binnennachfrage aufweist, ohne dabei in eine Schieflage wie die südeuropäischen Länder geraten zu sein. Eine Währungsunion mit 16 Frankreichs wäre aus makroökonomischer Sicht keine schlechte Vorstellung.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich in überzeugender Weise für den Euro ausgesprochen. Doch die Währungsunion wird nur Zukunft haben, wenn die deutsche Wirtschaftspolitik erkennt, dass wir selbst ein Teil des Problems wie auch der Lösung sind. Das bedeutet nicht, dass wir nicht mehr exportieren oder in unseren Anstrengungen um Produktivitätssteigerungen und Innovationen nachlassen sollen. Es bedeutet aber, dafür sorgen müssen, dass unsere Binnennachfrage endlich in Schwung bekommen.

Ein zentraler Ansatzpunkt für mehr Eigendynamik sind die hohen Ersparnisse der deutschen Wirtschaft, die seit Jahren überwiegend in ausländischen Geldanlagen investiert werden. Wenn es gelingen würde, diese Mittel verstärkt für Investitionen im Inland einzusetzen, würde das nicht nur die Inlandsnachfrage steigern. Es würde zugleich dazu beitragen, dass wir nicht länger unsere Altersvorsorge auf spanischen oder US-amerikanischen Schrottimmobilien aufbauen.

Im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik muss deshalb die Förderung der Investitionstätigkeit stehen. Dazu sollte zu allererst die Abgeltungsteuer auf Zinseinnahmen abgeschafft werden. Damit würde ein Instrument beseitigt, das die Anlageentscheidungen verzerrt, und zwar zu Lasten von Sachinvestitionen. Zugleich käme nebenbei auch noch mehr Geld in die Staatskasse. Eine degressive Abschreibung auf Neubauten und eine Eigenheimzulage würden viele Private wieder in die Lage versetzen, ihre Ersparnis in Immobilien zu lenken. Damit würde die Bildung von Sachvermögen endlich genauso gefördert wie die Vermögensanlage in Versicherungsverträgen. Sinnvoll wären außerdem Investitionsprämien für Unternehmen, die in energiesparende Produktionsanlagen investieren.

Das vitale Interesse am Euro

Aber die Privaten werden es allein nicht stemmen. Nach den bisherigen Planungen werden die öffentlichen Investitionen in den nächsten Jahren so gering ausfallen, dass sie nicht einmal die Abschreibungen ausgleichen. Der Staat sollte deshalb ein umfangreiches öffentliches Investitionsprogramm auflegen, auch wenn er sich dafür zusätzlich verschulden muss. Das Ersparte der Bürger ist momentan sicherer und ertragreicher in der deutschen Infrastruktur investiert als in ausländischen Staats- oder Unternehmensanleihen. Auf den ersten Blick würde ein solches Vorgehen mit den Bestimmungen der Schuldenbremse in Konflikt geraten. Aber man kann diese Bremse zeitweise außer Kraft setzen, wenn man es mit außergewöhnlichen Notsituationen zu tun hat, die sich der Kontrolle des Staates entziehen. Wenn die Eurokrise keine solche "außergewöhnliche Notlage" ist, was dann?

Deutschland hat ein vitales ökonomisches wie politisches Interesse am Euro. Doch ohne energische Anstrengungen der deutschen Wirtschaftspolitik für mehr Balance innerhalb des Systems wird die Europäische Währungsunion dieses Jahrzehnt nicht überleben.

Eine Außenansicht von Peter Bofinger

Peter Bofinger, 55, ist Professor für Volkswirtschaftslehre in Würzburg. Er gehört dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („Fünf Weise“) an.