Karl Nolle, MdL

spiegel.online.de, 17.06.2010

Spardebatte.: Verschont die Mittelschicht!

Ein Kommentar von Sven Böll
 
Deutschlands Mittelschicht fürchtet vor allem eines - den sozialen Abstieg. Doch damit verkennt sie ihr eigentliches Problem: dass der Staat sie gnadenlos ausnutzt. Es ist Zeit, die wahren Leistungsträger der Gesellschaft nicht weiter zu belasten. Das gilt auch für das Sparpaket.

Hamburg - "Die Mittelschicht schrumpft", "Ökonomen warnen vor Absturz der Mittelschicht", "Große Panik in der Mittelschicht" - die Medienreaktionen auf die jüngste Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) waren einhellig. Hatten doch die Ökonomen ihre Untersuchung zur Einkommensentwicklung in Deutschland auf die allseits beliebte Formel gebracht: "Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer."

Da fiel es den hauptberuflichen Sozial-Apokalyptikern aus Verbänden und Politik entsprechend leicht, ihre reflexhaften Gruselszenarien unters Volk zu streuen. Selbst der ansonsten besonnene Grünen-Chef Cem Özdemir warf der Regierung vor, das Auseinandertreiben der Gesellschaft zu beschleunigen.

Nur hat die ganze Sache einen Haken: Der Befund, dass sich die soziale Kluft in Deutschland massiv vergrößert und die Mittelschicht eine vom Aussterben bedrohte Spezies ist, lässt sich aus den DIW-Zahlen nicht wirklich ableiten. Wer die Daten der vergangenen 15 Jahre betrachtet, müsste zu zwei anderen Ergebnissen kommen. Und die sind eher beruhigend:

•Der prozentuale Anteil der finanziellen Unter-, Mittel- und Oberschicht an der Gesamtbevölkerung hat sich nur geringfügig zu Lasten niedriger Einkommensgruppen verschoben. Heute gehören 61,5 Prozent der Deutschen zur mittleren Verdienstklasse. 1995 waren es mit 64,9 Prozent nur geringfügig mehr. Die Gruppe der hohen Einkommen blieb mit gut 16,5 Prozent sogar nahezu konstant.

•Und was die jeweiligen Durchschnittseinkommen angeht, haben die einzelnen Schichten seit Mitte der neunziger Jahre etwa gleich viel zugelegt - die unteren Verdienste um gut fünf Prozent, die mittleren um rund sechs und die oberen um fast sieben. Es ließe sich also höchstens der Schluss ziehen, dass Deutschland noch immer so ungerecht (oder gerecht) ist wie früher.

Die Geschichte vom millionenfachen Absturz der Mittelschicht ist also eine Mär. "Heute noch McKinsey, morgen schon McDonald's" - das ist auch in den unsicheren Zeiten der Globalisierung eine absolut untypische Karriere. Es gibt mehr Facharbeiter, Angestellte und Akademiker, die in ihrem Berufsleben ein finanzielles Upgrading im Sinne höherer Bruttogehälter erleben, als solche, die mit einem Downgrading zu kämpfen haben. Das zeigt sich schon allein daran, dass gerade einmal 0,2 Prozent der Antragsteller von Hartz-IV-Leistungen von der Erhöhung des Schonvermögens profitieren. Die anderen haben schlichtweg kaum Rücklagen.

Deutschland funktioniert dank der Mittelschicht

Warum aber ist die Resonanz auf die DIW-Studie trotzdem so gewaltig? Die allgemeine Panikreaktion dürfte damit zu tun haben, dass Millionen Arbeitnehmer ein ungutes Gefühl beschleicht, wenn sie sich ihr Nettogehalt angucken. Es bleibt unterm Strich immer weniger übrig - das ist der allgemeine Eindruck bei breiten Bevölkerungsschichten. Bei der Mittelschicht entspricht die gefühlte Lage auch der tatsächlichen: Schließlich haben die Regierungen das Gros der Finanzierung der Staatsausgaben bei ihr abgeladen - egal ob die Politiker zu den selbsternannten "Mehr netto"-Fetischisten gehörten oder nicht.

Ob die Bezahlung der Lehrer, der Bau von Straßen oder die Finanzierung der Renten: Wer Hartz IV oder ein sehr niedriges Einkommen bezieht, beteiligt sich an diesen Kosten zumeist nicht. Und wer vermögend ist und etwa von seinen Kapitaleinkünften lebt, steuert nur einen Bruchteil dessen zu, was er leisten könnte.

Deutschland funktioniert, weil es (bei einer Bevölkerung von 82 Millionen!) rund 28 Millionen Menschen gibt, die im Technokratendeutsch sperrig "sozialversicherungspflichtig Beschäftigte" heißen. Diese Arbeitnehmer gehören überwiegend zu der Hälfte der Haushalte, die überhaupt Steuern zahlen. Sie können auch gar nicht anders: Ihr Arbeitgeber überweist ihnen nur das Nettogehalt. Und da sind neben den Steuern auch gleich schon die Sozialabgaben abgezogen. Zu den kleinen Freuden gehört es bei so viel Fremdbestimmung, wenn man gegenüber dem Finanzamt mal die Entfernung zwischen Wohnort und Arbeitsplatz zu seinen Gunsten aufrundet.

Über einen so geringen Gestaltungsspielraum schmunzeln viele Selbständige nur. Wer Unternehmer oder Rechtsanwalt ist, kann nicht nur die Differenz zwischen seinem Brutto- und Nettogehalt leichter beeinflussen. Er hat sich in der Regel auch von der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme verabschiedet.

Zum eigenen Vorteil: Weil der Selbständige etwa mit seiner privaten Rentenversicherung nur für sich sorgt, hat er die Gewissheit, im Alter das angesparte Geld auch zu erhalten. Pflichtversicherte Arbeitnehmer in der gesetzlichen Rentenversicherung müssen dagegen darauf hoffen, dass sie in ein paar Jahrzehnten auch angemessene Leistungen bekommen. Ihre heutigen Beiträge dienen erst mal nur der Finanzierung der heutigen Rentner.

Bei Gutverdienern ist die Belastung grenzwertig

Besonders gebeutelt sind die Angestellten, die Politiker gern Leistungsträger nennen - man weiß nur nicht, ob aus Respekt oder Hohn. Denn wer ein Bruttogehalt zwischen 25.000 und 60.000 Euro bezieht, erfährt bei der Gehaltsabrechnung regelmäßig, was abstrakte Begriffe wie "progressiver Steuertarif" und "Mittelstandsbauch" konkret bedeuten: Jeder zusätzlich verdiente Euro führt zu einer überproportionalen Belastung.

Ein Single, der 10.000 Euro pro Jahr verdient, muss für einen zusätzlichen Euro Einkommen inklusive Solidaritätszuschlag rund 19 Cent Steuern zahlen, bei 30.000 Euro sind es bereits mehr als 33 Cent und bei 50.000 Euro dann gut 43 Cent. Bei einem Ehepaar liegen die Einkommensgrenzen entsprechend höher.

Geradezu grenzwertig wird die Belastung in dem Einkommensbereich, in dem bereits der Spitzensteuersatz fällig wird (Singles: 52.000 Euro, Ehepaar: 104.000 Euro), aber noch Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung gezahlt werden müssen (bis 66.000 Euro pro Jahr). Hier steigt die Steuer- und Abgabenbelastung für jeden zusätzlich verdienten Euro auf deutlich mehr als 50 Prozent.

Echte Gutverdiener weisen gern darauf hin, dass die oberen zehn Prozent der Einkommensteuerzahler (Personen mit Einkünften von mindestens 66.000 Euro pro Jahr) fast die Hälfte zum gesamten Aufkommen der Einkommensteuer beitragen. Das ist zwar richtig. Nur profitieren diese Menschen davon, dass der Steuersatz nicht mehr progressiv steigt und dass keine zusätzlichen Beiträge zur Sozialversicherung mehr anfallen - egal, wie viel mehr sie verdienen.

Entsprechend sinkt die relative Belastung. Der Anteil, den ein Arbeitnehmer für die Sozialversicherung aufbringen muss, entspricht bei einem Jahresverdienst von 50.000 Euro knapp 20 Prozent des Einkommens. Bei 500.000 Euro schmilzt er auf gerade einmal zwei Prozent.

Vermögende müssen mehr leisten

Wie sehr die Mittelschicht gegenüber Gering- und Spitzenverdienern benachteiligt wird, zeigt sich auch bei den einkommensabhängigen Gebühren. Beispiel Kinderbetreuung: Ein Arbeitnehmer in Hamburg, der sein Kind zwölf Stunden pro Tag betreuen lässt, zahlt bei einem Nettoeinkommen von 1500 Euro pro Monat künftig gut 80 Euro. Bei einem Verdienst von 3000 Euro steigt der Beitrag um mehr als das Fünffache auf über 420 Euro. Danach wird es hingegen kaum noch teurer. Die Obergrenze für Top-Einkommen liegt bei rund 500 Euro.

Mittelschicht - das heißt in Deutschland: Der Verdienst ist zu hoch, um von Steuern und all den möglichen Zuzahlungen bei Kita & Co. befreit zu sein. Aber das Einkommen ist zu niedrig, als dass einem die Höhe der Abgaben egal sein könnte.

Dieses Fazit muss jeder berücksichtigen, der eine Antwort auf die zentrale Frage der kommenden Jahre sucht: Wie können die maroden öffentlichen Haushalte saniert werden?

Erstens: Dieses eine Mal sollte die Mittelschicht verschont bleiben. Baut die Regierung doch noch Steuervergünstigungen wie die Pendlerpauschale ab, müssen im Gegenzug die Steuersätze sinken.

Zweitens: Die Bundesregierung gibt für Hartz-IV-Leistungen rund 40 Milliarden Euro pro Jahr aus. Weil Normalverdiener einen beträchtlichen Teil zum Steueraufkommen beisteuern, dürfen sie auch von den Benachteiligten der Gesellschaft einen kleinen Sparbeitrag erwarten, ohne gleich als neoliberal gebrandmarkt zu werden.

Drittens: Sofern der Staat zur Haushaltssanierung seine Einnahmen erhöhen muss, sollte er es bitteschön bei den wirklich Wohlhabenden tun - etwa durch die Erhöhung der Reichensteuer, die Einführung einer Vermögensteuer oder eine Reform der Erbschaftsteuer.