Karl Nolle, MdL

Süddeutsche Zeitung, 22.07.2010

Bildungsforscher Klemm "Wir haben die Entwicklung verschlafen"

Interview: M. Holzmüller
 
Bildungsforscher Klaus Klemm erklärt, warum eine längere Grundschulzeit wichtig für die Gesellschaft ist und was bei der Lehrerausbildung falsch läuft.

Seit Hamburg sich per Volksentscheid gegen die Einführung der sechsjährigen Primarschule anstelle der vierjährigen Grundschule entschieden hat, diskutiert das Land über das richtige Schulsystem. Bildungswissenschaftler Klaus Klemm war einst im Beirat der Pisa-Studien. Im Gespräch erklärt er, warum eine längere gemeinsame Schulzeit wichtig für die Gesellschaft ist und welche Fehler in der Lehrerausbildung gemacht werden. 

sueddeutsche.de: Herr Klemm, nach dem Nein der Hamburger zur sechsjährigen Primarschule wird über den Sinn des längeren gemeinsamen Lernens diskutiert. Wie bewerten Sie diese Idee?

Klaus Klemm: Sieht man sich die Leistungsstudien an, so wird ersichtlich, dass allein eine Verlängerung der gemeinsamen Grundschulzeit keine höheren Kompetenzen bei den Schülern hervorbringt. Gleichzeitig ist jedoch belegt, dass Kinder, die in problemverdichteten Lerngruppen arbeiten, wie das in Hauptschulen der Fall ist, sich gegenseitig in ihrer Fortentwicklung hemmen. Für sie ergibt längeres gemeinsames Lernen mit stärkeren Schülern Sinn. Der Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule bringt eine soziale Selektivität mit sich. Je früher dieser Übergang nötig ist, desto mehr verstärkt er den sozial spaltenden Effekt. Ob allerdings zwei Jahre mehr in der Grundschule ausreichen, diese Selektivität zu mindern, ist fraglich. Dafür wäre es vielleicht notwendig, sich an Skandinavien zu orientieren, wo Schüler überhaupt nicht auf unterschiedliche Schulen sortiert werden.

sueddeutsche.de: Gibt es überhaupt klare Vorteile des längeren gemeinsamen Lernens?

Klemm: Oft übersehen wird der gesellschaftliche Aspekt. Die Schule ist der einzige Ort, an dem Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Ethnien zusammenkommen. Die Kirche hat diese integrative Funktion verloren, die Bundeswehr füllt diese Rolle für junge Männer ebenfalls nicht mehr aus und durch die Ganztagsschulen ist auch das Zusammenkommen verschiedener Bevölkerungsgruppen in Sportvereinen nicht mehr möglich. Eine längere gemeinsame Schulzeit fördert deshalb auch Integration und Toleranz.
 
sueddeutsche.de: Viele Eltern, vor allem aus bürgerlichen Schichten, haben Angst, dass ihre Kinder in einer Gemeinschaftsschule nicht genügend gefördert werden.

Zu spät für eine neue Lehrerausbildung?

Klemm: Das wird nicht passieren. In Berlin wechseln sieben Prozent der Schüler nach der vierten Klasse aufs Gymnasium, die große Mehrheit erst nach sechs Jahren. Studien haben gezeigt, dass die Lernentwicklung der Kinder, die länger die Grundschule besuchten, in keiner Weise der Entwicklung der Schüler nachsteht, die schon nach der vierten Klasse wechselten.

sueddeutsche.de: Wer in Deutschland das Gymnasium verändern möchte, muss mit riesigem Widerstand rechnen. Ist diese Sonderrolle des Gymnasiums gerechtfertigt?

Klemm: Das Argument ist immer, wir brauchen das Gymnasium, um unsere Leistungsspitze nachzubesetzen. Aber im internationalen Vergleich ist unser Gymnasium nicht besser als Schulmodelle aus dem Ausland. Die 30 Prozent der Besten in Deutschland sind nicht besser als die 30 Prozent der Besten im Ausland, wo es womöglich nur eine einzige Schule für alle gibt. Deshalb hat das Gymnasium seine Stellung eigentlich nicht verdient. Weniger als von der Struktur des Schulsystems hängt die Leistung der Schüler von pädagogischen Modellen ab.

sueddeutsche.de: Wie müsste sich die Lehrerausbildung ändern, um eine bestmögliche Förderung aller Schüler in einer gemeinsamen Schulform zu garantieren?

Klemm: Sie müsste einen stärkeren pädagogischen Schwerpunkt haben. Wir bilden heute noch immer Mathematiker und Biologen statt Mathematik-Lehrer und Biologie-Lehrer aus. Lehrer müssen schon in der Ausbildung lernen, wie man mit heterogenen Bildungsgruppen arbeitet. Um diesen Wandel in den Studienplänen umzusetzen, ist es allerdings jetzt zu spät. Bis die ersten Lehrer nach den neuen Prinzipien auf den Arbeitsmarkt kämen, vergehen mindestens 15 Jahre. Und bis dahin sind alle nötigen Stellen schon besetzt. Diese Entwicklung haben wir verschlafen.