Karl Nolle, MdL
Süddeutsche Zeitung, 11.09.2010
Rücktritt von Thilo Sarrazin - Ende gut, gar nichts gut
Ein Kommentar von Heribert Prantl
Man muss Thilo Sarrazin nicht bedauern. Dennoch endet mit seinem Rücktritt als Vorstandsmitglied der Bundesbank eine Affäre, die nur Verlierer kennt. Der größte Verlierer heißt Christian Wulff.
Thilo Sarrazin hat nachgegeben. Er mag sich daher nun von jener Volksweisheit nobilitiert fühlen, die denjenigen, der nachgibt, als den "Klügeren" bezeichnet. Und er kann so auf seinen Vortragsreisen den vielen Zitaten in seinem Buch ein weiteres anfügen.
Es stammt von der Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach; sie hat den Satz "der Klügere gibt nach" mit dem bissigen Kommentar versehen, dass er "die Weltherrschaft der Dummheit" begründe. Dieser Aphorismus fügt sich scheinbar trefflich in den Argumentationsduktus des Thilo Sarrazin, der in Deutschland die Dummen, nämlich die türkischen Einwanderer, nach Dominanz und Herrschaft greifen sieht.
Von der Dichterin Ebner-Eschenbach gibt es freilich noch ein anderes Zitat, mit dem sich das Schicksal Sarrazin auch ganz gut beschreiben lässt: "Man kann so rasch sinken, dass man zu fliegen meint."
Man muss Sarrazin nicht bedauern. Er hat vorderhand das bekommen, was er wollte: eine ungeheuere öffentliche Aufmerksamkeit. Er hatte sie vor allem deswegen, weil er das war, was er nun künftig nicht mehr sein wird: Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank. Der 65-jährige hat jetzt dieses Amt aufgegeben, das er von vornherein nicht hätte antreten dürfen. Er hatte offenbar von Anfang an vor, es als Bühne zu benutzen. Nun räumt er die Bühne wieder, auf der er ein Spektakulum inszenieren konnte, das seinesgleichen sucht.
Dass er damit einen "Preis" zahlt, kann man eigentlich nicht behaupten. Den Preis für das Theater hat die Bundesbank bezahlt, deren Ruf als neutrale Instanz binnen der 16 Sarrazin-Monate ziemlich ramponiert worden ist. Sarrazin war kaum im Amt, als er schon damit begann, an der Aufregungsspirale zu drehen. Schneller als in den vergangenen Wochen kann sie sich nicht mehr drehen.
Sarrazins Buch hat mehr Furor gemacht als die Memoiren aller Kanzler zusammengenommen. Er hat mit ein paar provozierenden Sätzen die Medien benutzt - und die Medien benutzten ihn; beide taten das zur Auflagensteigerung. Das hat geklappt. Der Fall Sarrazin wird daher noch lange als Beispiel für eine intensive politisch-mediale Symbiose gelten. Es ist zweifelhaft, ob sie wirklich erfolgreich war.
Sarrazin ist Profiteur, nicht Märtyrer
Wenn Sarrazin erst durch Vorabdruck protegiert und anschließend kritisiert wird, fördert das den Ruf des Journalismus nicht unbedingt. Sarrazin bekam rasenden Beifall zumal von denen, die schon immer gegen Ausländer in Deutschland polemisiert haben - und dazu die Einladung, Ehrenvorstand der NPD zu werden. Ein solches Image missbehagt ihm; wohl auch deshalb wollte er den Wirbel um seine Person nicht noch auf die Spitze treiben und eine Staatsaffäre daraus werden lassen. Sarrazin ist kein Märtyrer der Meinungsfreiheit; er war und ist für erste ihr Profiteur.
Natürlich genießt Sarrazin Meinungsfreiheit, so wie auch diejenigen Meinungsfreiheit genießen, die ihn als bourgeoisen Spießer bezeichnen oder als einen skurrilen Privatgelehrten, der sich von der Bundesbank hat finanzieren lassen. Die Meinungsfreiheit ist ein gnädiges Grundrecht. Sie gilt nicht nur für angenehme oder wertvolle Meinungen, sondern auch für unangenehme und schädliche. Der Strafrichter muss sich deshalb im öffentlichen Streit zurückhalten.
Schutz vor Selbstvergiftung
Das bedeutet aber nicht, dass jeder jederzeit und ohne jegliche Konsequenzen alles sagen könnte. Wenn einer seinen Chef öffentlich als Trottel bezeichnet, muss er mit seiner Kündigung rechnen. Das ist dann keine Strafe dafür, die Meinungsfreiheit in Anspruch genommen, sondern eine Konsequenz daraus, die Obliegenheiten missachtet zu haben, die ihn als Arbeitnehmer treffen.
Wenn ein prominentes SPD-Mitglied (wie einst Wolfgang Clement) empfiehlt, eine andere Partei als die SPD zu wählen, dann muss er mit seinem Parteiausschluss rechnen. Und wenn ein CDU-Fraktionsmitglied (wie einst Martin Hohmann) sich antisemitische Sprüche leistet, muss er sich nicht wundern, wenn seine Fraktion ihn, zum Schutz gegen politische Selbstvergiftung, vor die Tür setzt
Als Privatperson genießt jeder Mensch Meinungsfreiheit bis hin zur Narrenfreiheit. Wenn er aber in eine Partei oder einen anderen Gesinnungsverein eintritt, weiß er, was er tut. Partei kommt schließlich von lateinisch "pars", das heißt: Teil, Richtung. Ob die Partei klug handelt, wenn sie den Abweichler ausschließt, ist eine andere Frage.
Es wird nicht mehr geklärt werden, ob in einem Rechtsstreit Sarrazins gegen eine zwangsweise Entlassung die Bundesbank auch als eine Art Gesinnungsverein betrachtet worden wäre. Der Freiwilligkeits-Deal zwischen ihm und der Bundesbank (im Hintergrund das Bundespräsidialamt als Moderator) verhindert, dass "im Namen des Volkes" ein gerichtliches Urteil über die Causa gesprochen wird. Das bewahrt die Bundesbank und den Bundespräsidenten vor einer Rechtsschlacht und weiteren Peinlichkeiten.
Am Ende stehen nur Verlierer
Am Ende der Affäre Sarrazin gibt es ohnehin nur Verlierer. Erster Verlierer ist ihr Namensgeber selbst. Er hat zwar einen gewaltigen Mediensog erzeugt, dieser hat ihn aber in eine rechte Ecke gezogen, in der Sarrazin nicht stehen will. Der Platz käme ihm dann gelegen, wenn er der geistige Vater einer neuen Bewegung rechts von der Union sein wollte; das kann man ihm nicht unterstellen.
Der zweite Verlierer ist der Journalismus. Er hat die Provokationen Sarrazins befördert, aber damit eine vernünftige Auseinandersetzung mit dem Thema Integration weitgehend erstickt. Die notwendige Debatte wurde sarrazinisiert, und zwar so, dass man befürchten muss, dass sie nach dem Abgang Sarrazins wieder verschwindet. Dritter Verlierer ist die Bundesbank. Sarrazin hat ihr mit seinen Exaltationen geschadet; und sie selbst hat sich mit ihrer zaudernd inhaltsleeren Reaktion darauf diskreditiert.
Eine untätige Chance
Der größte Verlierer der Affäre Sarrazin aber ist der neue Bundespräsident. Christian Wulff hätte die Chance gehabt, aus der Sarrazin-Debatte eine Integrationsdebatte zu machen. Er hat sie untätig verstreichen lassen. Er hätte die Diskussion aus dem biologistischen Sumpf und dem törichten Gerede über gute und schlechte Gene herausholen, er hätte sich in einer großen Rede dem wichtigsten gesellschaftspolitischen Thema stellen müssen; er hat es nicht einmal versucht.
Niemand verlangt vom Bundespräsidenten, dass er Nathan den Weisen mimt. Aber von Wulff, der als Ministerpräsident in Niedersachsen die erste Muslimin in Deutschland zur Ministerin machte, hätte man sich schon ein wenig mehr erwartet als nichts. Stattdessen mischt sich Wulff ins politische Tagesgeschäft ein. Seine Aufforderung, die Bundesbank möge rasch dafür Sorge tragen, dass Sarrazin keinen Schaden mehr anrichtet, war nicht nur deplatziert; sie hätte ihn ums Haar in die prekäre Situation gebracht, nunmehr als ein Voreingenommener über die Abberufung Sarrazins entscheiden zu müssen.
Bald hat Wulff seine ersten hundert Tage hinter sich. Man kann nicht sagen, dass er bisher viel Ehre eingelegt hat.