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spiegel-online.de, 16:28 Uhr, 15.10.2010

Zum Tod von SPD-Politiker Scheer - Der grüne Genosse

Von Björn Hengst
 
Die große Karriere blieb ihm verwehrt, in der SPD war er immer nur Außenseiter. Denn Hermann Scheer folgte einer Vision, die lange nicht ins Parteiprogramm passte - er warb unermüdlich für den Ausbau der erneuerbaren Energie. Jetzt ist Scheer im Alter von 66 Jahren gestorben.

Berlin - Querdenker, Dickschädel, Visionär, Einzelgänger - Hermann Scheer hat sich in seiner politischen Karriere viele Attribute erarbeitet. Lobeshymnen wurden ihm weniger gesungen, dafür legte sich der gebürtige Hesse zu oft mit den Granden der SPD an und erwarb sich so den Ruf eines prinzipientreuen Abweichlers.

Es gibt zwei Sätze von dem überzeugten linken Sozialdemokraten, mit denen sich Scheer wohl am treffendsten selbst beschrieben hat:

"Opportunismus kotzt mich an", lautet der eine.

"Ich bin doch kein Diplomat", der andere.

Für manche Genossen war der promovierte Wirtschaftswissenschaftler pure Provokation. So für Gerhard Schröder, als Scheer 1999 gegen die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg argumentierte und die Nato-Bombardements auf die Zivilbevölkerung im Parteivorstand als Kriegsverbrechen geißelte. "Dann schick mich doch gleich nach Den Haag vor den Internationalen Gerichtshof", blaffte der damalige Bundeskanzler und SPD-Chef und drohte Scheer mit dem Parteiausschluss.

Scheer zog 1980 erstmals in den Bundestag ein; mit Fragen zur Außenpolitik und zur Abrüstung machte er zunächst auf sich aufmerksam. Aber schon bald entdeckte er für sich ein Thema, das ihn die folgenden Jahrzehnte beschäftigte: die regenerative Energie.

1985 schrieb Scheer in seinem Buch "Befreiung von der Bombe" in einem Exkurs über Solarkraft und erhielt Unterstützung von Willy Brandt: "Ich habe keine Ahnung davon, aber ich spüre in den Fingern, dass es das ist", zitierte Scheer einmal in der "Frankfurter Rundschau" die Worte Brandts.

"Sonnengott" und "Solarpapst"

In seiner Partei, die damals noch für Atomkraft war, konnte Scheer nur wenige für die regenerativen Energieformen begeistern. "Solarpapst" nannten ihn manche, andere "Sonnengott", doch darin schwang eher Spott mit als Anerkennung. Schließlich galt ökologisches Engagement lange Zeit auch in der SPD bestenfalls als Orchideenthema: unwichtig und langweilig.

Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 wollte Scheer einen SPD-Kongress zu alternativen Energien organisieren, aber die Partei bremste ihn aus. An einen Wechsel zu den Grünen hat er da dennoch nicht gedacht: "Es ist wichtiger, eine große Partei zu verändern, als eine kleine hinter sich zu haben."

1988 gründete Scheer Eurosolar, eine gemeinnützige Vereinigung für Erneuerbare Energien, und wurde ehrenamtlicher Präsident. Ihr Ziel: die vollständige Ablösung atomarer und fossiler Energiequellen durch erneuerbare. Elf Jahre später wurde Scheer mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet - für seinen "unermüdlichen Einsatz zur weltweiten Förderung der Sonnenenergie", wie es in der Begründung hieß.

Spätestens seit dieser Auszeichnung galt Scheer als international anerkannter Vorkämpfer für die Solarenergie. Das US-Magazin "Time" kürte Scheer zum "Hero for the green century". Auf Öko-Kongressen war er ein gefragter Redner.

In der rot-grünen Bundesregierung war Scheer der entscheidende Mann hinter dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, das zum Vorbild für viele Länder wurde.

In seiner Partei kam Scheer nie in die erste Reihe: Bei der Verteilung von Ministerposten wurde er ignoriert. Wer darüber mit ihm sprach, merkte, dass ihn das wurmte, zugeben wollte er dies öffentlich aber nie. "Ich habe mir meine Artikulationsfähigkeit erhalten und dafür auf Ämter verzichtet", sagte Scheer einmal trotzig.

Freiwilliger Rückzug aus dem SPD-Vorstand

Aus dem Vorstand der SPD, in dem er seit 1993 saß, verabschiedete er sich 2009 aus freien Stücken, durchaus genervt: Er habe keine Lust mehr, "in den SPD-Gremien behandelt zu werden wie ein Außenseiter - obwohl meine Themen in der Gesellschaft längst mehrheitsfähig sind", sagte Scheer damals der "tageszeitung".

Einmal hätte es etwas werden sollen mit einem Ministeramt - aber auch das scheiterte. Für die Landtagswahl 2008 berief die damalige hessische SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti Scheer in ihr Schattenkabinett. Für Wirtschaft und Umwelt sollte er zuständig sein, es wäre ein Superministerium gewesen, mit dem Scheer die Nummer zwei in einer von Ypsilanti geführten Regierung gewesen wäre.

Und er hatte große Pläne für das Land. Die Wind- und Solarenergie wollte der Alt-Linke massiv ausbauen, Atomstrom möglichst schnell durch Strom aus erneuerbaren Energien ersetzen. In der hessischen SPD taten sich damals einige schwer mit der Nominierung, Scheers Öko-Pläne erschienen vielen als ambitioniert.

Die Wahl am 27. Januar 2008 brachte keine klaren Mehrheitsverhältnisse, Ypsilanti strebte eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Duldung der Linkspartei an, obwohl sie dies zuvor ausgeschlossen hatte. Scheer galt dabei als wichtigster Berater und Antreiber Ypsilantis. Aber der Plan der Minderheitsregierung scheiterte, weil vier SPD-Abgeordnete ihrer Spitzenkandidatin die Unterstützung verweigerten. Sie sahen in Ypsilantis Verhalten einen Wortbruch. Scheer, der sehr leidenschaftlich werden konnte, tobte.

Wer ihn in dieser Zeit erlebte, traf einen verbitterten Mann.

Wie sehr er den Widerspruch mochte, bewies Scheer erst vor ein paar Tagen, als er sich in einem Gastbeitrag für den "Freitag" mit dem vor wenigen Wochen veröffentlichten Buch "Unterm Strich" von Peer Steinbrück auseinandersetzte - mit dem früheren Finanzminister, der zum rechten Flügel der SPD gezählt wird, hatte sich Scheer in der Vergangenheit häufiger Auseinandersetzungen geliefert. Steinbrücks Buch sei ein "Lehrstück an bigotter Selbstvergessenheit", schrieb Scheer. Der frühere Minister halte sich zugute, Deutschland aus der Finanzkrise manövriert zu haben, dabei habe er "die Lunte der Finanzkrise mitgelegt".

Am Donnerstag starb Scheer im Alter von 66 Jahren an Herzversagen. SPD-Chef Sigmar Gabriel würdigte Scheer als Politiker, "der politische Wirkung auch ohne formale Ämter in Regierung oder Parteien entfaltete - durch seine klaren Argumente, durch seine visionäre Kraft und seine charismatische Erscheinung".