Karl Nolle, MdL

Freie Presse, 27.10.2010

"Aufbruchstimmung und die Gewissheit, etwas bewegen zu können"

Heute vor 20 Jahren feierte der Sächsische Landtag seine Wiedergeburt - Sternstunden und bittere Pleiten - Abwänderung nach Berlin und Pflicht statt Kür
 

Heute wird in Dresden an die Wiedergeburt des Freistaates und seines Parlamentes vor 2o Jahren gedacht. Am 27. Oktober 1990 war der Landtag in der Dresdner Dreikönigskirche zu seiner ersten Sitzung zusammengekommen. Die Abgeordneten wählten Kurt Biedenkopf zum Regierungschef und Erich Iltgen (beide CDU) zum Landtagspräsidenten.

Dresden. Es sei die schönste Zeit in seinem Leben als Abgeordneter gewesen, schwärmt Thomas Colditz. „Es war die unvergleichliche Aufbruchstimmung", blickt der CDU-Mann aus Aue zurück, „und die Gewissheit, dass wir etwas bewegen können." Als Sternstunde der ersten, bis 1994 währenden Legislaturperiode, nennt er die Verabschiedung der Verfassung am 26. Mai 1992. Grundgerüst der Verfassung war der „Gohrische Entwurf", benannt nach dem Kurort bei Königstein, wo sie erarbeitet wurde.

„Die Sächsische Verfassung ist aus der Revolution geboren, aber nicht eigentlich revolutionär, denn sie knüpft an abendländische und sächsische Rechtstraditionen", urteilt Steffen Heitmann (CDU), einer der „Väter" des Entwurfes. Mehr als 3o Verbände, viele Sachverständige und rund r300 Bürger waren an der Vorbereitung beteiligt. „Wir müssen lernen, uns zu ertragen, also Demokratie und Pluralismus als Lebensform zu akzeptieren", sagte der damalige SPD-Fraktionschef Karl-Heinz Kunckel anlässlich der Verabschiedungszeremonie. „Diese Verfassung nimmt den sächsischen Bürgern eher ihre Identität als dass sie eine neue gibt. Eben weil ihnen mentalitätsfremde Moral-und Wertvorstellungen der Alt-BRD aufgedrückt werden", artikulierte Klaus Bartl, damals PDS, seine Ablehnung.

Es waren leidenschaftliche Debatten, die den Neubeginn des Plenarlebens bestimmten. In den ersten 6o Sitzungen beschloss der Landtag Im Gesetze, hinzu kamen 290o Drucksachen, Große und Kleine Anfragen sowie 120o Anfragen und Beschwerden. „Wir waren beseelt vom Neuaufbau", erinnert sich Thomas Jurk (SPD). Für Themen wie Ladenöffnungszeiten oder Nichtraucherschutz hatte die Gründergeneration keine Zeit. Komfortablere Arbeitsbedingungen als im Provisorium, in dem bis zur Wende die SED-Bezirksleitung von Hans Modrow residierte, bot der 1993 bezogene Neubau.

Reformeifer zeigte der Landtag schon 1994 auch in eigener Sache: Von 16o reduzierte er seine Abgeordnetenzahl auf 120. Bis 2009 stieg die Besetzung trotz Bevölkerungsrückgangs auf 132. Grund sind Überhang-und Ausgleichsmandate. Für 2011 peilt die Regierungskoalition eine Reduzierung an. Dazu müsste die Verfassung geändert werden. Es wäre ihre erste Korrektur. Dagegen steht bereits die 13. Novelle des Abgeordnetengesetzes auf der Tagesordnung. Beim Durchleuchten ihrer Vergangenheit fielen in der ersten Legislaturperiode neun CDU-Abgeordnete auf. Wegen ihrer Stasi-Tätigkeit legten sie ihr Mandat nieder, unter anderem Innenminister Rudolf Krause. 1998 endete mit dem CDU-Austritt auch die Karriere von Ex-Fraktionschef Herbert Goliasch, der 1994 wegen später revidierter Vorwürfe, für den sowjetischen Geheimdienst KGB gearbeitet zu haben, seinen Platz für Fritz Hähle frei machte. Dagegen saßen PDS-Abgeordnete wie Klaus Bartl, Volker Külow oder Peter Forsch die Stasi-Vorwürfe aus. Ex-Fraktionschef 'Dorsch litt unter dem Entzug seines Lehrstuhls an der Uni Leipzig und Imagekratzer als Spitzenkandidat im Wahlkampf 2004, doch scheiterte der Versuch, ihm das Landtagsmandat zu entziehen.

Der Niedergang der Sachsen-LB zählte zu den dunklen Stunden des Parlaments. Georg Milbradt (CDU), der Bank-Gründer, trat 2008 nach Dauerattacken des SPD-Mannes Karl Nolle entnervt zurück. Dabei hatte er 2002 kurz nach der Ablösung von Kurt Biedenkopf seinen größten politischen Erfolg gefeiert:

Am 4. September, kurz nach der Flutkatastrophe, besiegelte er zusammen mit der PDS und der SPD ein Bündnis für den Wiederaufbau des Landes. Solche Brückenschläge über konträre Parteigrenzen hatten in den 20 Jahren Seltenheitswert. Nur dreimal, klagen die Linken, sei es ihnen gelungen, eine Mehrheit für ihre Anliegen zu finden.

Sachsen habe nicht gezaudert, fällige Reformen zu verabschieden, hebt Volker Bandmann (CDU), neben Landtagspräsident Matthias Rössler (CDU) einer von acht Abgeordneten der ersten Stunde, hervor. Schon 1994 schrumpfte der Landtag die Zahl der Kreise von 48 auf 22 und 2008 auf zehn. Doch die Einführung eines Paragrafenprangers und die Abschaffung der Landesdirektionen blieben auf der parlamentarischen Strecke. 20 Jahre nach dem Neustart ist die Pflicht der Kür gewichen, und das Bedauern über das Fehlen der kreativen Köpfe in Biedenkopfs Gründerteam und das Abwandern ehrgeiziger Kräfte nach Berlin verschafft sich immer mehr Gehör. Bundestagspräsident Norbert Lammert(CDU) wird das heute in seiner Festrede sicher nicht erwähnen.
VON HUBERT KEMPER