Karl Nolle, MdL

spiegel-online.de, 13:02 Uhr, 04.11.2010

Studie zu Ost und West: Die immer noch geteilte Republik

Deutschland ist seit zwanzig Jahren wieder vereinigt - aber zusammengewachsen sind Ost und West noch immer nicht. Nach einer neuen DIW-Studie sind die Einkommensunterschiede in den vergangenen Jahren sogar wieder gewachsen - zu Lasten der Ex-DDR.
 
Berlin - Die Feiern zum Jubiläum der Deutschen Einheit sind gefeiert, die großen Reden sind gehalten. Zwanzig Jahre ist Deutschland wiedervereinigt. Aber wie nah sind Osten und Westen seit 1990 wirklich zusammen gewachsen?

Das haben jetzt Forscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)untersucht und dazu in den vergangenen Jahren mehr als 20 000 Menschen in ganz Deutschland gefragt: Nach ihren Löhnen, ihrem Leben, ihrem Glück.

Die Ergebnisse, zu denen das DIW kommt, sind ernüchternd - denn die Kluft zwischen Ost und West ist in den vergangenen Jahren sogar in einigen Bereichen wieder größer geworden.

Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick betreffen den Arbeitsmarkt, die privaten Lebensformen der Menschen und deren Einschätzung zu ihrer Lebenszufriedenheit.

•Vor allem die kleinen und mittleren Ost-Einkommen haben sich demnach seit Mitte der neunziger Jahre zunächst schnell an das Westniveau angenähert. Aber: Seit 2005 ist der Abstand zu den unteren West-Einkommen wieder gestiegen. Derzeit liegt den Berechnungen zufolge das reale persönliche Einkommen im Osten um ein Fünftel unter dem der Westler. Am größten sind die Einkommensunterschiede der Studie zufolge bei den höheren Einkommen. Das DIW wertet die Ergebnisse als Beleg dafür, "dass die ostdeutsche Wirtschaft bislang weniger in der Lage ist, hohe Einkommen zu generieren als die westdeutsche".

•Noch in einem anderen Bereich hat sich der Abstand des Ostens zum Westen vergrößert: Mitte der neunziger Jahre waren laut DIW noch 13 Prozent aller deutschen Führungskräfte Ostdeutsche, heute sind nur noch neun Prozent.

•Immer dramatischer wird die Lage im Osten und im Westen der Studie zufolge für Berufseinsteiger - ihr Einkommen sinkt im Vergleich zu anderen Altersgruppen in ganz Deutschland immer mehr ab. "Dies kann nicht mehr darauf zurückgeführt werden, dass Menschen früher aus dem Elternhaus ausziehen oder längere Ausbildungszeiten haben", sagt Forscher Jan Goebel. "Der Rückgang an Normalarbeitsverhältnissen trifft besonders die Generation der Berufseinsteiger." Für die Menschen in Ostdeutschland falle dieser Prozess gravierender aus, weil sie häufiger über niedrigere Einkommen verfügten.

•Dementsprechend unzufrieden sind vor allem die jüngeren Menschen mit ihrem Gehalt: Laut DIW driftet vor allem in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung die Zufriedenheit mit dem Einkommen zwischen Jüngeren und Älteren auseinander. "Die ostdeutschen Senioren von heute haben ihre langen Erwerbszeiten aus DDR-Zeiten angerechnet bekommen und zeigen sich mit ihren Einkommen genauso zufrieden wie die Senioren in Westdeutschland", so die Wissenschaftler.

•Im Osten gibt es bei den Gehältern weniger Unterschiede zwischen den Geschlechtern als im Westen. Laut der Studie sind im Osten die Stundenlöhne von Männern und Frauen fast gleich - im Westen liegen sie weiter auseinander und bei beiden Geschlechtern durchschnittlich höher als im Osten.

•Bei der Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren grundsätzlich eher der Westen dem Osten angenähert. Die niedrigere "Arbeitsbeteiligung von Frauen in Westdeutschland nähert sich mittlerweile der höheren Frauenquote in Ostdeutschland an", so DIW-Forscher Peter Krause.

•Ost- und Westdeutsche leben immer ähnlicher - das ist ein Ergebnis der Studie. So ist im Osten und Westen die Zahl der Alleinerziehenden gestiegen, es gibt in ganz Deutschland immer weniger "klassische Familien" mit Eltern und zwei Kindern - und insbesondere im Osten ist der Anteil der Single-Haushalte stark gewachsen. "In der DDR hatten der Berufseinstieg und die Familiengründung sehr viel früher stattgefunden. Insbesondere der Rückgang der Kinderzahl ist eine gravierende Konsequenz der hohen Arbeitslosigkeit und Zukunftsunsicherheit, die mit dem Vereinigungsprozess einhergingen", so DIW-Wissenschaftler Peter Krause zur Erklärung.

•In den neunziger Jahren stieg die allgemeine Lebenszufriedenheit der Ostdeutschen der Studie zufolge stark an - aber so glücklich wie im Westen sind die Menschen in Sachsen, Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin laut DIW-Befragung bis heute nicht. Dabei spiele auch die verbreitete Wahrnehmung, Ostdeutsche würden an den gesellschaftlichen Rand des wiedervereinigten Deutschlands gedrängt eine Rolle, so das Fazit der Forscher. Das DIW differenziert die Ergebnisse zur Lebenszufriedenheit wie folgt: Am unzufriedensten seien Menschen zur Zeit ihres aktiven Erwerbslebens - im Osten noch stärker als im Westen. Im Zuge der Wirtschaftskrise habe sich die Zufriedenheit der Bevölkerung im Erwerbsalter in beiden Landesteilen erneut stark gesenkt. Bei den Jüngeren stehe die unterschiedlich hohe Zufriedenheit zwischen Ost und West eindeutig in Beziehung zu Einkommen, Arbeitslosigkeit und Haushaltskonstellationen - und hängt kaum mehr mit pauschalen Ost-West-Unterschieden zusammen. "Wir gehen davon aus, dass die Benachteiligung - und damit auch die Zufriedenheit - zunehmend lokal und regional konzentriert sein wird", so Krause.
anr