Karl Nolle, MdL
Sächsische Zeitung, 11.11.2010
Tillichs Traum vom braven Bürger
Böser Tillich, lieber Tillich – wie viel Streit verträgt die Demokratie? Von Marcus Krämer
SZ-Redakteur Marcus Krämer wundert sich über das Demokratieverständnis von Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich. Bürgerproteste und juristischer Streit gehören zum Rechtsstaat und sind keine Anzeichen einer Blockaderepublik.
Im Jahr 20 nach der Wiedervereinigung hat es Sachsens Regierungschef Stanislaw Tillich (CDU) fertiggebracht, ostdeutsche und westdeutsche Bürger gleichzeitig vor den Kopf zu stoßen: Die Wessis sind störrische Esel, die Ossis hingegen willige Maultiere. So lautet im Wesentlichen die Botschaft des Beitrags, den Tillich im Oktober in der Zeitschrift „Focus“ veröffentlicht hat, und der nun, etwas verzögert, zu Diskussionen führt.
Das Problem des Artikels ist nicht nur dieser Ost-West-Vergleich, der zu großen Teilen abwegig ist, wie der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Donsbach vorige Woche an dieser Stelle nachgewiesen hat. Das Problem ist auch die Geringschätzung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien, die dabei zum Ausdruck kommt. Tillich schreibt, der Protest gegen Stuttgart21 „beunruhigt“ ihn. Im Osten hingegen sei alles gut. So gebe es in Sachsen „kein Großprojekt, das erfolgreich durch Klagen gestoppt wurde“.
Ein Politiker, den friedlich demonstrierende Bürger beunruhigen und der ein Problem damit hat, wenn andere von ihrem Recht Gebrauch machen, vor Gericht zu ziehen, hat offenbar nicht ganz verinnerlicht, was Demokratie und Rechtsstaat im Kern bedeuten.
Natürlich sind unter den vielen Demonstranten in Stuttgart auch Spinner und Knallköpfe. Aber so ist das nun mal bei Massenkundgebungen. Darüber kann nur jemand beunruhigt sein, der noch nie bei einer Demonstration mitgemacht hat. Natürlich ist das Stuttgarter Bahnprojekt von demokratisch gewählten Volksvertretern beschlossen worden. Aber wenn Zigtausende Bürger aus allen Lagern trotzdem dagegen auf die Straße gehen, dann sollte einen Volksvertreter das nicht empören, sondern nachdenklich machen. Natürlich werden manche Klagen aus reiner Taktik geführt, um Bauprojekte zu blockieren. Aber ob die Kläger recht haben oder nicht, das entscheiden immer noch die Gerichte, und nicht der Regierungschef. Ohne diese Gewaltenteilung wäre Demokratie ziemlich wertlos.
Als die Bürger frech geworden
Tillich ist besorgt darüber, dass Proteste und Gerichtsverfahren jedes Großprojekt verhindern könnten: „Wir (in Sachsen, Anm.d.Red.) haben Kohlekraftwerke gebaut, Straßen und Autobahnen, Braunkohle-Tagebaue erweitert. Das ist in anderen Bundesländern nicht mehr möglich.“ Mal abgesehen davon, dass sich in dieser Aufzählung ein merkwürdiges Verständnis von Fortschritt zeigt – stimmt diese Behauptung überhaupt? Ist es wirklich so, dass Großbauprojekte anderswo unmöglich sind? Vielleicht sollte Tillich mal eine Auslandsreise in die alten Bundesländer wagen und sich ein Bild von der Wirklichkeit machen.
Deutschland ist eines der wohlhabendsten und modernsten Länder der Welt – und es ist eines der demokratischsten Länder, mit einer ausgeprägten Protestkultur und einem hoch entwickelten Rechtsstaat. Die Geschichte zeigt also, dass die Mühen, die eine Demokratie mit sich bringt, keineswegs zu einer rückständigen Blockaderepublik führen. Und selbst wenn es so wäre: Was sollte die Lösung sein? Ein autoritäres Regime, ohne nervenden Bürgerprotest?
Unternehmer klagen gern über die bürokratischen Hemmnisse in Deutschland, die ihnen oft ihre Geschäfte erschweren. Und doch investieren viele lieber hier als in irgendwelchen Bananenrepubliken. Ein Rechtsstaat hat den Vorzug, dass verlässliche Spielregeln gelten. Die sind zwar oft kompliziert und können manche Prozesse ins Stocken bringen, wie sich nicht nur bei Stuttgart21 zeigt, sondern auch bei der Waldschlößchenbrücke oder beim Sonntagseinkauf. Doch letztlich muss sich jeder an diese Spielregeln halten, und der Interessenausgleich verläuft friedlich. Es gibt keine Willkür, keine Repression, keine Bürgerkriege, keine Militärputsche und kaum Korruption. Das ist es, was Deutschland einen Standortvorteil verschafft – und nicht der von Tillich beschworene brave Bürger, der die Regierung in Ruhe machen lässt.
Nun könnte man den „Focus“Artikel als missverständlich formulierte Entgleisung abtun. Jedoch hat Tillich schon öfter gezeigt, wie gleichgültig ihm manche demokratische Sitten sind. So etwa in dem Rundbrief, den der Regierungschef voriges Jahr an Landesbedienstete geschickt hat. Darin schrieb er: „Wir haben die Wahlen auch deshalb gewonnen, weil Sie in der Verwaltung unsere politischen Ideen umsetzen.“ Eine krasse Gleichsetzung von Partei und Staat – hatten wir das nicht schon mal?
Kein bisschen schuldbewusst zeigte er sich in der Sponsoringaffäre im März 2010, als Firmen bei einer CDU-Veranstaltung Werbeauftritte für ihr Unternehmen kaufen konnten, zu denen auch ein kurzes Gespräch mit Tillich gehörte. Selbst seine Parteichefin Angela Merkel rügte solche Verträge: „Ich darf nicht das Amt des Ministerpräsidenten vermischen mit dem Sponsoring und den Eindruck erwecken, als würde mit diesem Amt geworben. Das geht nicht.“
Zur Kritik an der Verleihung eines Dankesordens an den russischen Premierminister Wladimir Putin beim Semperopernball2009 sagte Tillich: „Es gehört sich nicht, einen ausländischen Gast so zu behandeln.“ Dieses Harmoniestreben ist typisch für ihn: „Der Wähler mag es nicht, wenn Politiker streiten.“ Da mag er vielen aus der Seele sprechen, die das Talkshowgezänk leid sind. Dennoch bleiben Diskussion und Kritik Wesensmerkmale einer lebendigen Demokratie.
Selig sind die Sanftmütigen, heißt es in der Bibel. Gleichwohl lässt sich Tillichs Konfliktscheu nicht mal mit seinen christlichen Überzeugungen rechtfertigen. So hat etwa der katholische Sozialphilosoph Oswald von Nell-Breuning betont, dass Konflikte, auch aus christlicher Sicht, ein notwendiges Mittel der Politik sind: „Grundsätzlich irrig“, so Nell-Breuning, „ist die Vorstellung, Interessen seien an sich etwas Böses und Verwerfliches, seien Ausgeburt schmutzigen Eigennutzes.“ Vor allem aber müsste ein Christdemokrat, der seine Sache ernst nimmt, damit leben können, dass es gegensätzliche Interessen gibt. Denn auch das steht in der Bergpredigt: Liebt eure Feinde!