Karl Nolle, MdL

Frankfurter Rundschau, 24.01.2011

Unehrliche Prognosen

Gastbeitrag zum Wirtschaftswachstum von Heiner Flassbeck
 
In schwachen Momenten zweifelt man ja manchmal am eigenen Verstand. Nimmt man zum Beispiel den XXL-Aufschwung von Wirtschaftsminister Rainer Brüderle in diesem Jahr ein wenig unter die Lupe, und insbesondere die im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung beschriebene Erholung des privaten Verbrauchs, hat man genau einen solchen Moment. Da soll sich nämlich der im vergangenen Jahr mit 0,5 Prozent nur anämisch gestiegene Konsum erheblich erholen und um 1,6 Prozent zulegen. Wenn man aber fragt, wieso, gerät man sofort in tiefes prognostisches Wasser.

Die einzige halbwegs sichere Zahl, die es für die Einkommenssituation der Privathaushalte 2011 gibt, ist die Zunahme der Arbeitnehmereinkommen pro Kopf. Weil die meisten Tarifverträge für dieses Jahr schon 2010 abgeschlossen worden sind, kann man ganz gut ausrechnen, mit welchem Einkommenszuwachs der Arbeitnehmer im Durchschnitt der Volkswirtschaft rechnen kann. Hier unterscheiden sich die Zahlen, die man findet, auch nicht wesentlich. Sowohl die Bundesregierung als auch die Deutsche Bundesbank oder Forschungsinstitute rechnen mit einem Zuwachs von knapp über zwei Prozent (Brüderle schätzt 2,1 Prozent). Das ist etwa der gleiche Wert wie im vergangenen Jahr.

Da beginnt man schon zu fragen: Wenn die Arbeitnehmer nominal nur so wenig zusätzlich bekommen wie im Vorjahr, warum sollten sie dann so viel mehr ausgeben? Fallen etwa die Preise? Schaut man in die Prognosetabelle der Bundesbank (die sich ja für die Preisentwicklung zuständig fühlt), findet man das Gegenteil. Wohl wegen der Verteuerung der Rohstoffe schätzt die Bundesbank, dass die Verbraucherpreise in diesem Jahr mit 1,7 Prozent deutlich stärker steigen als 2010 mit nur 1,1 Prozent. Folglich steigen die Realeinkommen je Arbeitnehmer 2011 um nur 0,4 Prozent nach 1,1 Prozent in 2010. Da gerät man ins Staunen.

Das bedeutet nämlich, dass aus einem weit geringeren Realeinkommenszuwachs der Arbeitnehmer ein weit höherer Zuwachs des Konsums abgeleitet wird. Wie geht das? Nun, jeder, der einmal eine Prognose gemacht hat, weiß genau, wie das geht. Er wird es dem staunenden Publikum allerdings niemals erklären, weil er ja sonst ganz ohne Kleider dastehen würde. Man unterstellt einfach, was man eigentlich prognostizieren soll.

Wenn man „annimmt“, das Wachstum läge insgesamt tatsächlich bei den gewünschten 2,3 Prozent, dann kann man 1,6 Prozent Konsumzuwachs einfach durch zwei Zusatzeffekte erzielen. Einerseits nimmt man an, dass bei diesem Wachstum auch die Beschäftigung ganz ordentlich wächst. Andererseits gibt es bei diesem Wachstum neben dem Zuwachs der Löhne auch noch einen ordentlichen Zuwachs der Unternehmensgewinne, und auch die werden ja zum Teil konsumiert. Schon hat man einen ordentlichen Konsumzuwachs „gemacht“, der dann wiederum den ordentlichen Zuwachs des von vorneherein unterstellten Wachstums „erklärt“. Das mag rein rechentechnisch konsistent sein, mit der Wirklichkeit hat das aber kaum zu tun.

Man muss sich bei solchen Methoden nicht mehr darüber wundern, wie oft die Prognostiker fundamental danebenliegen. Die Hälfte einer solchen Prognose ist offenbar reines Wunschdenken. Ginge man ernsthaft und undogmatisch vor, würde man sich fragen, wie sich der unvermeidbar extrem geringe Konsumanstieg vor allem zu Beginn des Jahres auf die Gewinne der Unternehmen und auf deren Beschäftigungspläne auswirkt. Man müsste dann zu dem Ergebnis kommen, dass beides nicht sehr günstig verläuft, jedenfalls nicht günstiger als im Vorjahr.

Folglich wäre auch nicht zu erwarten, dass die Beschäftigung sehr viel mehr ausgeweitet wird als 2010. Denn zugleich – das wird in allen Prognosen so gesehen – verlangsamen sich auch die Exportzuwächse deutlich, und die Bauinvestitionen wachsen wesentlich weniger.

Bei einer solchen ehrlichen Vorgehensweise würde man sicher bei einem Wachstum von deutlich unter zwei Prozent landen. Das ganze Gerede von XXL oder „glänzenden Zahlen“, mit denen die deutschen Politiker und der Großteil der Medien vor allem gegenüber dem Ausland hausieren gehen, wäre schnell vorbei. Dann müsste man auch zugeben, dass der nach dem unglaublich tiefen Einbruch von 2009 in Gang gekommene Aufholprozess in höchstem Maße gefährdet ist, wenn die Rohstoffpreise und damit die Importe stärker steigen oder die Exporte doch nicht noch einmal um über sechs Prozent zulegen nach 14 Prozent in 2010.

Das wollen wir aber alles nicht, das würde ja das Image des neuen deutschen „Wirtschaftswunders“ und seiner Macher gefährden. Obendrein in einem Superwahljahr. Auch würde es neue internationale Kritik hageln, weil es Deutschland immer noch nicht gelingt, die Binnennachfrage zu beleben und den in Not geratenen Nachbarn so die erste echte Hilfestellung zu geben. Was ist im Vergleich dazu eine kleine Manipulation an der Prognose, die ja sowieso niemand durchschaut.

Heiner Flassbeck ist Chef-Volkswirt bei der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD) in Genf.