Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 07.07.2011

Armes, reiches Deutschland

Von Jakob Augstein
 
Krise überwunden, Wirtschaft läuft, Arbeitslosigkeit niedrig. Also alles in Ordnung? Leider nicht. Der Wirtschaft geht es gut, vielen Menschen nicht. Daran müssen sich alle Parteien messen lassen.

Deutschland geht es glänzend, hören wir. Kein Land habe die Finanzkrise so gut überstanden wie Deutschland, hören wir. In der "Zeit" konnte man neulich lesen, dem Land gehe es "so gut wie selten seit '49".

Und tatsächlich: Die Auftragsbücher der Firmen sind voll, die Wirtschaft brummt, die Arbeitslosigkeit ist niedrig, und das Haushaltsdefizit wird 2011 unter der Grenze des Maastricht-Vertrages liegen. Die Regierung verspricht jetzt sogar schon Steuersenkungen.

Wenn es Deutschland so gut geht, wird es wohl auch den Deutschen gut gehen. Was für einen Sinn würde diese Aussage sonst machen? Die Wahrheit ist: Der Wirtschaft geht es gut, vielen Menschen nicht. Es ist lange her, dass sich am Stand der Wirtschaft ablesen ließ, wie es den Menschen geht. Heute hat das eine mit dem anderen wenig zu tun. Und wer sagt, dass es Deutschland gut geht, betreibt damit bereits Politik. Denn er verschleiert das größte Problem des Landes: die soziale Ungleichheit.

Den Randgruppen der deutschen Gesellschaft geht es alles andere als glänzend. Die Randgruppen, das sind aber nicht nur Asylsuchende, Migranten und Behinderte, sondern Kinder, Alte und Arbeitslose. Egal ob es um Bildung geht, um Gesundheitsversorgung, um den Zugang zum Arbeitsmarkt: Deutschland ist schon lange kein gerechtes Land mehr.

Wachsende Ungleichheit und steigende Armut

Vor drei Jahren hatte schon die OECD vorgerechnet, wie die Ungleichheit sich in Deutschland ausbreitet. Anfang der neunziger Jahre lag der Anteil der Armen in Deutschland um ein Viertel unter dem OECD-Schnitt. Knapp zwanzig Jahre später rangierte er knapp darüber. "Insgesamt haben in Deutschland Ungleichheit und Armut in den Jahren 2000 bis 2005 so schnell zugenommen wie in keinem anderen OECD-Land", hieß es in der Studie. Die Uno kommt in einem neuen, aber umstrittenen Bericht zu ähnlichen Ergebnissen.

Nun läßt sich über Zahlen und Berichte immer trefflich streiten. Doch eine Tendenz läßt sich nicht leugnen: Die Armen werden ärmer, die Reichen reicher.

Steuersenkungen schaden den meisten Menschen nur

Steuersenkungen werden daran nichts ändern. Auch nicht wenn "kleine und mittlere Einkommen" profitieren sollen, wie die Regierung verspricht. Das Grundproblem der Verteilung bleibt unangetastet: Die Steuerlast wird von den Lohnempfängern getragen, nicht von den Vermögenden. Der Staat bedient sich beim Lohn. Darum verdampft auch jede Gehaltserhöhung. Die Vermögen besteuert der Staat hingegen gar nicht, ihre Erträge nur mäßig. Es ist darum kein Wunder, dass die Löhne und Gehälter stagnieren, die Vermögen aber zunehmen.

Steuersenkungen schaden im Gegenteil den meisten Menschen nur. Vom Öffentlichen profitieren die am meisten, die selber nicht viel haben. Wer einen eigenen Pool besitzt, braucht das Freibad nicht. Alle anderen schon.

Wir sparen nach unten und verteilen nach oben. Das ist keine Ideologie. Daraus ergibt sich die Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Und es hat mit Sozialneid nichts zu tun, diese Frage zu stellen. Das ist ohnehin ein ärgerlicher Begriff. Sein Zweck ist es, die Debatte abzuwürgen. Sozialkritik ist notwendig und hat mit Sozialneid nichts zu tun.

"Mit dem Satz von der ursprünglichen Ungleichheit der Menschen muss alles politische Denken beginnen": In dieser Aussage des Historikers Heinrich von Treitschke aus dem 19. Jahrhundert steckt die ganze konservative Ideologie. In der Zeit, als es zwei deutsche Staaten gab, war das nicht das Leitmotiv des deutschen Gesellschaftsentwurfs. Seitdem hat sich daran etwas geändert. Es breitet sich eine Ideologie der Ungleichheit aus, eine Ideologie der Ungleichwertigkeit.

Soziale Ungleichheit ist nicht ursprünglich. Sie ist ein von Menschen gemachtes Übel. Sie sollte das Kernthema aller Parteien sein, die den Begriff Fortschritt noch ernst nehmen. Für die Gesellschaft ist zu viel Ungleichheit gefährlich. Grüne und SPD sollten sich dieses Themas mit demselben Eifer annehmen, den sie einst für den Kampf gegen die Kernkraft aufgebracht haben.