Karl Nolle, MdL
spiegel-online.de, 19.07.2011
Normalverdiener können sich weniger leisten als im Jahr 2000
Vergleichsstudie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)
Es ist ein ernüchterndes Ergebnis: Deutschland ist zwar in den vergangenen zehn Jahren deutlich wettbewerbsfähiger geworden, aber der Preis für die Beschäftigten ist hoch. Laut einer Studie haben fast alle Arbeitnehmer seit dem Jahr 2000 massiv an Kaufkraft eingebüßt - teilweise bis zu 22 Prozent.
Berlin - Auf dem deutschen Arbeitsmarkt findet ein massiver Umbruch statt. Die Zahl der Arbeitslosen sinkt seit Monaten, im Juni waren 2,89 Millionen Menschen ohne Job - mehr als zwei Millionen weniger als noch 2005. Doch auf der anderen Seite steht ein Strukturwandel, der viele Verlierer hat: Die Zahl der Zeitarbeiter, Aushilfen und prekär Beschäftigten steigt seit Jahren.
Die Spaltung zeigt sich nicht nur im aktuellen Aufschwung, sondern auch bei einer Betrachtung des vergangenen Jahrzehnts: Dem Großteil der Arbeitnehmer blieb im vergangenen Jahr weniger vom Gehalt als noch 2000. Von einer höheren Kaufkraft konnten dagegen Top-Verdiener profitieren. Das zeigen Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die der Forscher Markus Grabka am Dienstag präsentierte. Demnach verzeichnen die unteren fünf Einkommensgruppen die stärksten Einbußen. Im Durchschnitt aller Einkommensgruppen liegt das Minus zwischen 2000 und 2010 bei 2,5 Prozent, in den unteren fünf Gruppen dagegen zwischen 5 und 22 Prozent.
Ein Beispiel: Wer 2000 noch ein reales Nettoeinkommen von 835 Euro hatte, kam zehn Jahre später nur noch auf 705 Euro - hat also 130 Euro oder 16 Prozent weniger. Ein solches Einkommen verdient jemand, der in Deutschland zur sogenannten unteren Mittelschicht gehört - also zum Beispiel ein Verkäufer, eine Frisörin oder jemand, der bei einem Sicherheitsdienst beschäftigt ist.
Die Zahlen beruhen auf Umfrageergebnissen des sozio-ökonomischen Panels (siehe Infobox in der linken Spalte). Für seine Auswertung teilte DIW-Forscher Grabka die deutschen Beschäftigten in zehn gleich große Gruppen. Dann rechnete er den durchschnittlichen monatlichen Reallohn aller Beschäftigten der jeweiligen Gruppe aus und verglich ihn über zehn Jahre. Der Reallohn setzt sich zusammen aus dem Nettoeinkommen abzüglich der Inflation. Das heißt konkret: Wenn die Preise stärker steigen als der Verdienst, bleibt am Ende für den Beschäftigten weniger übrig. Seine Kaufkraft sinkt.
Laut Grabka ist die untere Mittelschicht von der negativen Entwicklung am stärksten betroffen. "Das liegt vor allem an der wachsenden Zahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse." Dazu zählen neben Leiharbeit auch befristete und geringfügige Stellen sowie Teilzeitjobs, in denen die Arbeitszeit unter 20 Stunden pro Woche liegt. Die Zahl dieser Stellen stieg 2010 in Deutschland auf 7,84 Millionen. Von den 322.000 Jobs, die 2010 geschaffen wurden, waren laut Statistischem Bundesamt 182.000 Leiharbeiter-Stellen - also 57 Prozent. Die Zahl der Leiharbeiter stieg auf insgesamt 742.000 und erreichte damit einen neuen Höchstwert.
Berufseinsteiger bekommen weniger als früher
Ein weiterer Grund für den Kaufkraftverlust ist laut Grabka, dass immer mehr Frauen beschäftigt sind - und diese meist unterdurchschnittlich bezahlt werden. Zugleich wächst der Dienstleistungssektor, in dem die Löhne ebenfalls niedriger sind als in der Industrie. "Außerdem waren die Gewerkschaften in den vergangenen Jahren bei den Tarifverhandlungen sehr zurückhaltend", sagt Grabka.
Das habe zwar einerseits dazu geführt, dass Deutschland international wettbewerbsfähiger wurde - wegen stagnierenden oder gar sinkenden Lohnkosten für die Unternehmen. Die Schattenseite ist jedoch, dass viele Arbeitnehmer weniger Geld zur Verfügung haben. Das betrifft nicht nur den 400-Euro-Jobber in der Kneipe, sondern auch gut ausgebildete und erfahrene Beschäftigte.
Der Trend setzt sich laut Grabka aber auch bei Berufseinsteigern fort: "Junge Menschen beginnen ihr Berufsleben heute mit deutlich niedrigeren Einkommen als noch vor zehn Jahren." Selbst ausgezeichnete Qualifikationen und stringente Lebensläufe seien mittlerweile keine Versicherung mehr gegen schmale Einstiegsgehälter.
cte