Karl Nolle, MdL

SPIEGEL Nr. 31, Seite 25, 01.08.2011

SACHSEN - Die Härte des Systems

(Echte oder vermeintlicher Gegner, dürfen in Sachsen nicht mit rechtsstaatlicher Zurückhaltung rechnen. So trifft es auch renitente Oppositionspolitiker, von denen sich die Regierung herausgefordert fühlt. Ein Mann, wie Karl Nolle zum Beispiel.
 

Hausmitteilung
Betr.: Sachsen
Ziemlich simpel ist das Herrschaftsprinzip in Sachsen. Wer sich gut mit der Regierung stellt, kann in Frieden leben. Den anderen droht Ungemach. Die SPIEGEL-Redakteure Maximilian Popp, 25, und Steffen Winter, 42, beschreiben, wie willfährig der Staat den Zwecken der seit gut 20 Jahren waltenden Christdemokraten dient. Winter, bis 2010 Korrespondent in Dresden, hat bei regierungskritischen Recherchen Sonderbares erlebt. Einmal entdeckte er im Navigationssystem eines Leihwagens, welche Adresse der Mieter vor ihm angesteuert hatte: Neuländer Straße 60 in Dresden, Sitz des Verfassungsschutzes. Winter ließ den Wagen inspizieren. Der Befund: Der BMW gab alle drei Minuten ein Signal ab - ein Peilsender, von wem auch immer installiert. Der zweite Fall: Winter wurde von der Polizei vorgeladen, weil in einem anderen von ihm gemieteten Leihwagen Drogen gefunden worden waren - von wem auch immer dort platziert. Winter schaltete die SPIEGEL-Justitiare ein, dann hörte er nichts mehr von der Angelegenheit (weiter zum Thema Seite 25).
DER SPIEGEL31/2011, Seite 3

Offenbar gelten im Südosten auch zwanzig Jahre nach dem Untergang der DDR eigene Regeln.

Die Affäre um riesige Mengen abgeschöpfter Handy-Daten zeigt das seltsame Verhältnis der Dresdner Landesregierung zum Rechtsstaat. Der Fall ist vorläufiger Höhepunkt einer ganzen Reihe juristischer Absonderlichkeiten, die wohl in keinem anderen Bundesland vorstellbar wäre.

Lothar König glaubte, er habe das alles hinter sich gelassen. Die Schnüffeleien, die Telefonspionage, die Verleumdungen. Alles eben, was für ihn die DDR ausmachte. Und nicht die Bundesrepublik. König schluckt. "Ich habe mich geirrt. Nichts hat sich geändert."

Der 57-Jährige arbeitet als Jugendpfarrer in Jena, betreut junge Leute auf der Straße. Die Thüringer Polizei lobt sein entschiedenes Eintreten gegen Rechtsextremismus. König wird selten laut: Raucht Pfeife, trägt Vollbart, das Atmen fällt ihm wegen seines Gewichts schwer. Doch nun bricht es aus ihm heraus: "Das sind SED-Methoden! Mein Glaube an den Rechtsstaat ist erschüttert!"

Durch einen Zufall hat König erfahren, dass die sächsische Polizei gegen ihn ermittelt. Der Theologe wird verdächtigt, Mitglied einer "kriminellen Vereinigung" zu sein, eines linken Schlägertrupps, der in Sachsen Rechtsradikale jagt.

Der Geistliche war im Februar mit seiner Gemeinde, Gewerkschaftern und dem Jenaer Oberbürgermeister in Dresden, um gegen einen Aufmarsch von Rechtsextremen zu demonstrieren. Die Fahnder glauben, der Hundert-Kilo-Mann könnte Mitglied einer "Antifa-Sportgruppe" sein, die sich in Dresden durch gezieltes Vorgehen und ihre Fitness vorgetan haben soll. "Absurd", sagt König. Der Pfarrer erwägt, gegen Sachsen juristisch vorzugehen.

Im Rest der Republik könnte man über den Fall König wohl schnell zur Tagesordnung übergehen. Eine bedauerliche Verirrung übereifriger Polizisten, wie sie auch in einem Rechtsstaat schon mal passieren kann. Aber in Sachsen? Dort sind die Ermittlungen gegen den Jenaer Pfarrer bislang kaum aufgefallen, weil sie nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel zu sein scheinen.

Wie kein anderes Bundesland hat Sachsen über Jahre hinweg eine Serie unglaublicher Verletzungen rechtsstaatlicher Prinzipien produziert. Im Südosten der Republik gelten offenbar auch zwei Jahrzehnte nach dem Untergang der DDR eigene Regeln. Immer wieder werden eklatante Fälle staatlichen Machtmissbrauchs und polizeilicher Willkür bekannt, ohne dass sich die Verhältnisse grundlegend bessern würden.

Der Freistaat, diagnostiziert der Berliner Geschichtsprofessor Wolfgang Wippermann, sei das "rechtskonservativste und unfreieste Bundesland der Republik". Gänzlich ironiefrei beklagt der Wissenschaftler die Ignoranz gegenüber Bürgerrechten: "In Sachsen geschehen Dinge, die könnte sich George Orwell nicht einmal vorstellen."

Ihr eigenartiges Rechtsverständnis demonstrierte die sächsische Polizei zuletzt vor wenigen Monaten in der "Handy-Affäre". Die Beamten hatten nach Ausschreitungen bei einer Demonstration am 19. Februar in Dresden die Daten von über 250 000 Mobilfunkanschlüssen abgeschöpft, insgesamt mehr als eine Million Datensätze. Telefonnummern, Uhrzeit und Dauer der Anrufe, den Standort der Gesprächsteilnehmer, Daten von Demonstranten, Abgeordneten, Anwälten, Journalisten und Unbeteiligten.

Ziel der Operation war es, ebenjener linken kriminellen Vereinigung auf die Spur zu kommen, in der die Ermittler auch den Pfarrer König vermuten. So groß der öffentliche Aufschrei war, so ungerührt reagierte die schwarz-gelbe Landesregierung. Missmutig opferte sie den Dresdner Polizeipräsidenten.

Kurz darauf, in der vergangenen Woche, wurde die nächste Ungeheuerlichkeit bekannt. Auch in einem anderen Fall hatten die Beamten in großem Umfang Handy-Daten erhoben. In dem bislang vergeblichen Versuch, einen 2009 vermutlich von Linksextremen verübten Brandanschlag auf eine Bundeswehrkaserne in Dresden aufzuklären, sammelten sie sogar 1,1 Millionen Datensätze.

In Sachsen herrsche "bestenfalls eine Halb-Demokratie", kritisiert Antje Hermenau, die grüne Oppositionschefin im Dresdner Landtag. Die Regierung pflege ein "verqueres Verhältnis" zu den Bürgern. Sie glaube, der Staat müsse vor den Menschen geschützt werden.

Dass dabei regelmäßig gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen wird, nimmt die Regierung offenbar in Kauf. So rückten im Februar Elitepolizisten bei Einbruch der Dunkelheit im "Haus der Begegnung" im Norden Dresdens an. Mit einer Kettensäge verschafften sie sich Zutritt zu dem Gebäude. 120 Beamte durchsuchten die Räume eines Jugendvereins, eines Rechtsanwalts, von Politikern der Linkspartei. Sie nahmen etwa ein Dutzend Personen fest, beschlagnahmten Computer und Handys.

Der Durchsuchungsbefehl klang fulminant. Die Polizei ermittle gegen eine "kriminelle Vereinigung", Paragraf 129 Strafgesetzbuch. Mitglieder eines linken Schlägertrupps nützten das Haus, um Straftaten zu koordinieren. Am Ende wirkte der Einsatz, als wollte der Staat Menschenhändler, Autoschieber und Islamisten auf einmal bezwingen.

Der offenkundige Anlass für den Zugriff war dann doch schlichter. Anti-Nazi-Demonstranten hatten Steine gegen Reisebusse geworfen, in denen Rechte zu einem Aufmarsch nach Dresden gereist waren. Zwar saß in den Bussen während des Angriffs niemand außer den unversehrt gebliebenen Fahrern, doch der Vorfall genügte der Staatsanwaltschaft offenbar, die Razzia anzuordnen. Die Täter hätten mögliche Verletzungen der Fahrer in Kauf genommen, so die Begründung der Justiz.

Die Staatsanwaltschaft behauptet, die Verdächtigen könnten noch weitere Straftaten begangen haben, will aber nicht sagen, welche.

Mit aberwitzigem Aufwand verfolgen die sächsischen Behörden knapp zwei Dutzend Verdächtige, die die Polizei intern als "Antifa-Sportgruppe" bezeichnet und die sie für wiederholte Angriffe auf Rechtsextreme in Sachsen verantwortlich macht. Doch trotz abgehörter Telefone, Hausdurchsuchungen und DNA-Tests wurde bislang gegen keinen der Beschuldigten Anklage erhoben.

Die angebliche Bedrohung durch linke Schläger scheint im Freistaat zum Freibrief geworden zu sein, sämtliche Vorstöße der Polizei zu rechtfertigen. Die Grüne Hermenau glaubt, hier werde versucht, die Bundesrepublik von vor 1968 wiederaufleben zu lassen.

So ist auch die Handy-Affäre Teil eines Kleinkriegs sächsischer Polizisten und Staatsanwälte, die um ihre Ehre kämpfen. In all den Jahren, in denen jeweils im Februar rechte und linke Gruppen am Jahrestag der Dresdner Bombennacht aufeinandertrafen, sahen die zum Schutz der rechtsextremen Demonstranten aus dem gesamten Bundesgebiet abgeordneten Polizeieinheiten schlecht aus. Das Katz-und-Maus-Spiel gewannen Linke und aufgebrachte Bürger, die rechte Aufmärsche in der Stadt nicht dulden mochten. Die Stimmung bei Polizei und Strafverfolgern wurde zunehmend gereizt, zumal die öffentliche Meinung stets gegen sie war. Die Ermittlungen gegen die ominöse kriminelle Vereinigung sollte endlich Entlastung bringen.

2009 hatten Autonome in Dresden eine Gruppe Rechtsradikaler verprügelt, von denen sie mit Flaschen beworfen worden waren. Fünf Monate später verletzten linke Schläger einen Rechtsextremen schwer. Die Polizei vermutet, dass es sich nicht um die Taten Einzelner gehandelt hat, sondern um die einer organisierten Bande.

Anhaltspunkte für den Verdacht scheint es kaum zu geben. In den Akten heißt es nur, die Angreifer seien gezielt und koordiniert vorgegangen. Dennoch eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren nach Paragraf 129. Schwerere juristische Geschütze lassen sich kaum auffahren. Wird Paragraf 129 bemüht, haben die Ermittler freie Bahn, und die Grundrechte müssen sich kleiner machen. Die Existenz einer "kriminellen Vereinigung" zu beschwören sei eine Verlockung für die Fahnder, glaubt Ulrich Stein, Strafrechtsprofessor an der Universität Münster. Sie bekämen dadurch Mittel in die Hand, die ihnen andernfalls verwehrt blieben.

Manche Linke werden verfolgt, weil sie in einem Bus zu einer Demonstration gereist sind, in dem die Fahnder später Pfefferspraydosen fanden. Andere, weil sie am Telefon von Verdächtigen nach einer leeren Videokassette gefragt wurden.

Doch wenn es darum geht, echte oder vermeintliche Gegner zu bekämpfen, darf niemand in Sachsen mit rechtsstaatlicher Zurückhaltung rechnen. Wer nicht mitspielt im konservativen Freistaats-Theater, dem droht die ganze Härte des Systems. Das ist inzwischen offenbar Tradition in dem nach wie vor jungen Bundesland. Mal trifft es mutmaßliche linke Randalierer, mal renitente Oppositionspolitiker, von denen sich die Regierung herausgefordert fühlt.

Einen Mann wie Karl Nolle zum Beispiel. Der Sozialdemokrat war einer der entschiedensten Kritiker der dauerregierenden CDU-Truppe. Er sorgte einst mit dafür, dass Kurt Biedenkopf als Ministerpräsident zurücktreten musste, er trieb den jetzigen Regierungschef Stanislaw Tillich vor sich her.

In Biedenkopfs Rücktrittsjahr 2002 hatte der Druckerei-Unternehmer Besuch vom Steuerfahnder. Als er kam, erinnert sich Nolle, habe er erklärt, "die Königstreuen" hätten ihn geschickt. 2007 kamen sie erneut. Nolles Anwalt hielt die Ermittlungen zwar für einen "Akt der Willkür", doch der SPD-Landtagsabgeordnete verstummte bald mit seiner Kritik am Gebaren der CDU-dominierten Landesregierung. Aufträge brachen weg, 18 Monate lebte der Politiker mit den Vorwürfen, möglicherweise ein Betrüger zu sein.

Dann wurde das Verfahren gegen eine Geldauflage von 7000 Euro eingestellt - zahlbar zugunsten der Aussätzigenhilfe. Die Druckerei überlebte die Aktion knapp. Nolle musste die Geschäftsführung abgeben, ist ein gebrochener Mann.

Und er ist kein Einzelfall. Als 2007 im Landesamt für Verfassungsschutz Akten über angebliche Verwicklungen ranghoher Juristen und Politiker mit der organisierten Kriminalität auftauchten ("Sachsensumpf"), war die Ruhe im Land nur kurz in Gefahr. Die Papiere hatten vernichtet werden sollen, jetzt ging das nicht mehr.

Man musste also ermitteln, doch rasch lag ein Ergebnis vor, das die politische Klasse des Landes erfreut haben dürfte: Der Dienst habe alte, unbewiesene Geschichten wie einen Teebeutel immer wieder aufgekocht.

Umgehend ging die Obrigkeit zum Gegenangriff über. Ermittelte gegen Verfassungsschützer, gegen Journalisten, gegen Zeugen. Die Ermittler erstellten das Bewegungsprofil eines verdächtigen Verfassungsschützers, werteten Handy- und Computerdaten aus. Externe Spezialisten wurden aufgefordert, nach Verbindungen zu einem Journalisten und zwei Landtagsabgeordneten der Linken zu suchen, die durch ihre parlamentarische Immunität geschützt waren.

Als die Affäre hochkochte, besuchte der Anwalt einer ebenfalls verfolgten Verfassungsschützerin seine Mandantin im Krankenhaus. Zurück in seinem Auto, steckte er sein Mobiltelefon in die Halterung. Plötzlich fing der Apparat, der gleichzeitig als Navi diente, an zu sprechen. "Das Gerät!", habe eine aufgeregte Stimme getönt. Dann Tumult, dann Ruhe. Wer hatte sich da eingeklinkt?

Oder der Fall des ehemaligen Wirtschaftsministers Kajo Schommer. Fünf Jahre ermittelten die Sachsen wegen Verdachts der Bestechlichkeit, Untreue und falscher uneidlicher Aussage gegen den Ex-Minister.

Unter anderem ging es um den Vorwurf, Schommer habe beim Verkauf eines staatlichen Unternehmens zusätzliche Fördermittel angewiesen, mit denen später eine Imagekampagne der CDU-Landesregierung finanziert worden sei. Es kam noch zu einer Anklage, doch da erlag Schommer einem Krebsleiden. Im Charterflieger reiste Ministerpräsident Georg Milbradt zur Trauermesse nach Köln. Die Staatskasse kam für die Verfahrenskosten auf, die Geschichte wurde nie richtig aufgeklärt.

Einem ermittelnden Staatsanwalt und einem Journalisten aber wurde ihr Interesse für den Minister zum Verhängnis. Schommer wurde bei einer Hausdurchsuchung im Schlafanzug von einem wartenden Journalisten fotografiert. Das reichte für eine Handy-Abfrage des Journalisten aus. Die Mobildaten wurden aufgelistet, die Kontakte ausgewertet, um eine undichte Stelle im eigenen Apparat zu finden. Die Konten des verdächtigen Staatsanwalts wurden gefilzt und seine Telefondaten ausspioniert.

Es war der CDU-Patriarch Kurt Biedenkopf, der in den neunziger Jahren vorlebte, wie dehnbar der Rechtsbegriff doch ist. Immer wieder hatte er sich für ein Immobilienprojekt seines Kölner Unternehmer-Freundes Heinz Barth in Leipzig stark gemacht. Der Rechnungshof monierte, Barth vermiete dem Freistaat 4700 Quadratmeter, die das Land gar nicht brauche. Schaden während der 25-jährigen Laufzeit: 30 Millionen Mark. Es gab Briefe an den "lieben Kurt-Hans", bei Barth-Projekten "Deinen Einfluss geltend zu machen". Am Ende beerdigte der Generalstaatsanwalt den Fall - gegen den Widerstand von Kriminalisten und Staatsanwälten. Ein Vorsatz sei nicht belegt.

Beim einstigen sächsischen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten und Ex-Justizminister Steffen Heitmann (CDU) war es ähnlich. Heitmann zählt zum Revolutionsadel, 1989 war er juristischer Berater der Dresdner Opposition. Er stoppte als Minister Ermittlungen wegen des Verdachts der Strafvereitelung gegen den ehemaligen Kabinettskollegen und Parteifreund Heinz Eggert.

Heitmann wurde erst aus dem Verkehr gezogen, als er sich auch noch über ein anderes Verfahren laufend berichten ließ und die Informationen an einen Parteifreund im Landtag weitergab. Der Präsident des Dresdner Verwaltungsgerichts klagte im Zuge des Skandals: "Ich kenne kein anderes Bundesland, in dem das Justizministerium so offen Einfluss auf die Verwaltungsgerichte nimmt."

Doch Sachsen wäre nicht Sachsen, wenn nicht auch diese Geschichte ein Nachspiel gehabt hätte. Zwar trat Heitmann zurück, doch dann traf es den Datenschutzbeauftragten, der die Affäre aufgedeckt hatte. Er wurde - sächsische Verhältnisse eben - mit einem Verfahren überzogen.
von Maximilian Popp und Steffen Winter