Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 16.09.2011

"Ein merkwürdiges Selbstverständnis"

Thomas Giesen zu den heftigen Angriffen von Regierung und Justiz auf den sächsischen Datenschützer Andreas Schurig in der Handydatenaffäre.
 
Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Kommentare und Analysen zu aktuellen Themen. Texte, die aus der ganz persönlichen Sicht der Autoren Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen. Heute: Thomas Giesen, einstiger sächsischer Datenschutzbeauftragter, geht der Frage nach, ob Sachsens Justiz in der sogenannten Handy-Affäre formelle Fehler unterlaufen sind, die rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprechen.

Immer, wenn es um Verfassungsfragen geht, wird die Luft dünn. Das sollten die Kronjuristen wissen, wenn sie sich in der aktuellen Disharmonie zwischen dem Sächsischen Datenschutzbeauftragten Andreas Schurig–- er ist ein selbständiges Verfassungsorgan, weil er in der Sächsischen Verfassung mit eigenen Rechten und Pflichten ausgestattet ist – und der sächsischen Justiz zu Wort melden. Der Datenschutzbeauftragte ist der Anwalt aller derjenigen, deren Daten – wohlgemerkt heimlich – ausgewertet wurden. Er soll präventiv darauf hinwirken, dass derartige Grundrechtseingriffe als das sorgfältige Ergebnis eines rechtsstaatlichen Verfahrens erkennbar sind; „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ lautet die Formel.

Hier soll nicht erörtert werden, dass er Funkzellenabfragen und zweckwidrige Datennutzung durch Staatsanwaltschaft und Polizei beanstanden musste und dass der Generalstaatsanwalt verstockt ist. Mir geht es vielmehr um den Aspekt, dass sich der Sächsische Richterverein einen Schuh angezogen hat, den der Datenschutzbeauftragte gar nicht hingestellt hat. Schurig berichtet dem Landtag: „Der Antrag der Staatsanwaltschaft vom 22.2. 2011 war als richterlicher Beschluss ausformuliert; der Briefkopf des Beschlussantrages war der des Amtsgerichts Dresden. Der richterliche Beschluss – der Antrag der Staatsanwaltschaft Dresden wurde ohne Änderungen abgezeichnet ... erging am 23. 2. 2011.“

Ausdrücklich nimmt der Datenschutzbeauftragte davon Abstand, deshalb die Richter zu beanstanden: „Ich nehme nicht Stellung zu ... den ergangenen richterlichen Beschlüssen. Dies verbieten die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit der Gerichte und die einfachgesetzliche Beschränkung meiner Zuständigkeit ...“ An anderer Stelle wird er nur wenig deutlicher, wenn er die Pflicht der Ermittlungsbehörden zu sorgfältiger Arbeit anmahnt: „Ein ’blindes‘ Vertrauen darauf, dass das Gericht möglicherweise unvollständige oder fehlende Informationen in jedem Fall nachfordert, entspräche nicht der strafprozessualen Wirklichkeit.“ Recht hat er. Der Landtag hat es immerhin 2003 ausdrücklich abgelehnt, dem Datenschutzbeauftragten zu verbieten, sich kritisch in Ermittlungsverfahren einzuschalten. Richter verteilen da keine Persilscheine. Und Staatsanwälte sind verfassungsgemäß uneingeschränkt zu kontrollieren.

Aus Schurigs Worten macht der Richterverein, der auch Staatsanwälte vertritt, eine „ungerechtfertigte und ehrverletzende“ Kritik, für die er sich zu entschuldigen habe, weil er unterstelle, der Richter habe blind unterschrieben. Aber das steht nirgendwo. Es kommt noch besser: Der Verein verweist darauf, dass die Staatsanwaltschaft den Richtern seit Jahr und Tag solche Beschlüsse zur Zeitersparnis vorformuliert. Da kann ich nur sagen: Getroffene Hunde bellen; sie verbellen eine Fehlentwicklung.

Das Bundesverfassungsgericht führt verbindlich für alle am 12. März 2003 aus: „Es ist die Aufgabe des Ermittlungsrichters, sich eigenverantwortlich ein Urteil zu bilden und nicht etwa die Anträge der Staatsanwaltschaft auf Übermittlung von Verbindungsdaten nach einer nur pauschalen Überprüfung einfach gegenzuzeichnen. Zur richterlichen Einzelentscheidung gehören eine sorgfältige Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und eine umfassende Abwägung zur Feststellung der Angemessenheit des Eingriffs im konkreten Fall.“ Wenn tatsächlich die Staatsanwaltschaft ihren Antrag als richterlichen Beschluss vorformuliert und dazu sogar den Briefkopf des Gerichts benutzt, so entsteht zumindest der böse Schein, dass der Richter zum Vollzugsorgan der Strafverfolgungsbehörden degradiert wird, frei nach dem Motto: Bitte hier unterschreiben! Der Generalstaatsanwalt müsste wissen: Wichtiger als die Inhalte sind im Rechtsstaat die Formen. So tritt man an einen Richter nicht heran! Und die Richter müssen wissen: So lässt man es nicht mit sich machen!

Gerade weil das Verfahren nicht öffentlich ist und die in ihrem Grundrecht Betroffenen außen vor bleiben, haben Antragsteller und Gericht absolute Distanz voreinander zu wahren. Es geht um ein förmliches Verfahren und nicht um die biedere Herstellung eines kollegialen Einvernehmens. Die Richter verlieren ihre Vornehmheit und allen Respekt, wenn sie mit dem vorformulierenden Antragsteller zusammenwirken. Man stelle sich vor, die große Anwaltskanzlei in der Kleinstadt schreibt den Amtsrichtern zur Arbeitserleichterung die Zivilurteile vor.

Das Wort „vor-schreiben“ ist in der Tat entlarvend. Warum sonst wird vorformuliert? Selbst wenn der Richter sich den Text der Staatsanwaltschaft erst nach sorgfältiger Prüfung zu eigen macht (so unterstellt es der Oberlandesgerichtspräsident im guten Glauben), so wird ihm das schwerlich jemand abnehmen können, solange dazu die Akten schweigen. Die Akten müssen sprechen: Hier muss der Richter eine selbständige geistige Arbeit abliefern und kein Plagiat. Er muss beurkunden, dass er alle Einzelheiten studiert hat und danach selbst einen abwägenden, ganz unabhängigen Text formuliert, als dessen autonomer und neutraler Verfasser er selbst unzweideutig zu erkennen ist und niemand anderer. Wir wissen alle: Erst wenn man selbst schreiben muss, kommen die Probleme und die Zweifel.

Wozu gibt es einen Richtervorbehalt bei der Anordnung von freiheitsbeschränkenden Hoheitsakten? Doch nicht zum Abnicken! Kann es dabei um die Frage gehen, wieviel die Richter zu tun haben? Ob sie – die immer Dienststunden als angeblichen Eingriff in ihre Unabhängigkeit ablehnen – außerhalb der Dienstzeiten arbeiten müssen? Das interessiert mich herzlich wenig. Was ist mit Busfahrern, was mit Bäckern?

Ein Auslöser für diesen Missstand, so ist zu hören, ist die massive Überlastung der Gerichte und der Staatsanwaltschaften. Es ist die Aufgabe des Justizministers, die ungestörte Arbeitsfähigkeit der Justiz zu verbürgen. Wir brauchen mehr Richter und mehr Staatsanwälte. Und weniger Beamte im Justizministerium. Da haben bislang alle Justizminister in Sachsen kläglich versagt. Ja, es ist einigen Politikern, die sich ernsthaft und kundig mit der Justiz befassen, erkennbar, dass es anderen offenbar unerwünscht ist, eine schnelle, punktgenaue und sorgfältige richterliche und staatsanwaltschaftliche Arbeit zu garantieren. Überlastete Justiz? Schafft endlich Stellen!

Es ist für das Berufsethos des Richters unverzichtbar, dass er selbst dem Verfahren und den Texten seinen persönlichen Verantwortungs- und Formulierungsstempel aufdrückt. Wenn das nicht ersichtlich und nachlesbar geschieht, wenn die Dignität und die Unabhängigkeit der Gerichte einer „unbürokratischen zeitsparenden Zusammenarbeit“ geopfert werden, ist die sächsische Justiz nicht in Form. Die Form ist die Feindin der Willkür.