Karl Nolle, MdL

spiegel-online.de, 14:06 Uhr, 09.10.2011

SPD-Zustand - Überraschend bräsig ...

Politisch erneuert und vitalisiert hat sich die Partei nicht. Auf die Härte der sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Brüche, die bevorstehen, ist sie ebenso wenig vorbereitet wie der Rest der etablierten Politik.
 
Die SPD-Spitze spekuliert auf ein vorzeitiges Ende der Merkel-Rösler-Regierung. Man sei bereit für eine Regierungsübernahme, verkünden die Granden. Doch die Frage ist: Wie fit, erneuert und vitalisiert ist die Partei wirklich?

Schauen wir zunächst auf die acht Regionalwahlen, die seit dem großen Desaster Ende September 2009 in Deutschland stattgefunden haben. In fünf Bundesländern konnte die SPD ihre Regierungsposition behaupten. In drei Bundesländern - Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Baden-Württemberg - gelangte die SPD aus der Opposition heraus in das Kabinett. Aus sozialdemokratischer Sicht eine unzweifelhaft erfreuliche Bilanz.

Nur: Mit einem kräftigen Ausbau des Wählerfundaments konnten sich die Sozialdemokraten, sieht man von den Wahlgängen in Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern ab, keineswegs renommieren. Die SPD hielt in Sachsen-Anhalt und Bremen in etwa ihr vorangegangenes Ergebnis. Dagegen hatte sie einen weiteren Rückgang in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz (-9,9 Prozentpunkte), Baden-Württemberg und Berlin zu verkraften.

Sehen wir einmal genauer auf die Bundesländer Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, da hier einige Charakteristika der sozialdemokratischen Wähleranatomie gut deutlich werden. Die Sozialdemokraten in NRW verschlechterten sich 2010 gegenüber 2005 um weitere 2,6 Prozentpunkte auf 34,5 Prozent. Die Anteile der baden-württembergischen Sozialdemokraten schmolzen 2011 um zwei Prozentpunkte auf 23,1 Prozent ab. Die SPD in NRW steht damit wieder auf den Stand von 1954. Die Sozialdemokraten im Südwesten verbuchten 2011 das schlechteste Resultat in ihrer Landesgeschichte. Zuwächse verzeichnet die SPD in beiden Ländern allein bei den über 60-Jährigen, einzig bei den Rentnern. Bei den Wählern, die einen Erwerb nachgingen, fiel die SPD um knapp vier Prozent zurück. In der Altersgruppe der 18- bis 44-Jährigen war die Abwendung von der SPD mit einem Minus von über sechs Prozent am stärksten.

Im Kern gilt dieser Entwicklungszug allgemein, für fast alle Bundesländer. Die SPD reüssiert bei den Rentner, und sie stürzt nach 2009 forciert bei den jungen Wählern ab, die noch in der Ausbildung stecken. Im Westen zogen zuletzt die Grünen daraus ihren Nektar, im Osten - man übersieht es zuweilen - bei denjenigen, die als jung, männlich, gering gebildet bezeichnet werden, durchaus die NPD. Und bekanntlich spielt im Wettbewerb um das junge Elektorat mit den Piraten nun noch ein weiterer, derzeit besonders attraktiver Anbieter mit.

Aderlass in Richtung Grüne, Zuwächse aus dem altbürgerlichen Lager

Verändert hat sich seit 2009 die strukturelle Zusammensetzung der Wählerwanderungsflüsse. Am Ende der Großen Koalition verlor die SPD über drei Millionen Wähler von 2005 an die Linke und an das Lager der Nichtwähler. Diese Bewegung hat sich in den letzten beiden Jahren nicht fortgesetzt. Stattdessen hat es einen kräftigen Aderlass in Richtung Grüne gegeben. Kompensieren konnte dies die SPD durch bemerkenswerte Zuwächse aus dem altbürgerlichen Lager, also aus dem Spektrum von CDU und FDP. Natürlich hat sich dadurch die sozialdemokratische Wählerschaft im Jahr 2011 - gerade im Vergleich zu 1998 oder 2002 - signifikant verändert. Linke und ökologisch-postmaterialistische Einstellungen dürften hier deutlich geschwunden sein, konservative Stabilitäts- und Sicherheitserwartungen an Resonanz im deutlich gealterten SPD-Elektorat gewonnen haben.

Ganz ähnlich sieht es mit der demografischen Struktur der Mitgliedschaft aus. 2011 fiel die SPD unter die 500.000-Mitglieder-Marke. Das Durchschnittsalter der Sozialdemokraten liegt 2011 bei 58 Jahren, diejenigen unter 36 Jahren bilden nicht einmal zehn Prozent der SPD-Mitgliedschaft. Wie bei den Wählern, so dominieren in der SPD auch bei den Mitgliedern nunmehr die Rentner und Pensionäre. Die stärkste Gruppe unter den aktiv erwerbstätigen Mitgliedern bilden die Beamten mit 23 Prozent. Arbeiter kommen nur noch marginal, zumindest im Vergleich zum gesellschaftlichen Mittel deutlich unterproportional vor in dieser Partei, die lange auf ihre proletarischen Wurzeln stolz war.

Ende 2009 tönte daher der Ruf nach einer gründlichen Reform der Organisation - wie immer nach schweren Wahlniederlagen. Und wie stets wurden die übliche Medizin empfohlen: Mitgliederbeteiligung, Vorwahlen, offene Listen. Dann schwächt sich der Reformimpetus allerdings ziemlich rasch ab. Denn: Im föderalen Deutschland hält die innerparteiliche Depression und Selbstkritikdiskussion nach schlimmen Bundestagsschlappen nie sonderlich lange an, denn meist steht schon nach wenigen Monaten ein "kleiner Machtwechsel" in den Bundesländern vor der Tür. Für die SPD geschah dies 2010 in Nordrhein-Westfalen, 2011 in Hamburg und Baden Württemberg. Dort verflüchtigte sich dann jäh das Interesse an parteiinternen Veränderungen. Man hat schließlich staatliche Macht, man muss regieren; alles scheint schließlich bestens. Die Reform der Organisation stößt in solchen Landesverbänden fortan nicht mehr auf tatkräftige Unterstützer, sondern auf pures Desinteresse.

Und infolgedessen verpuffte letztlich der mutigste Vorstoß des Parteichefs Gabriel im Prozess der Organisationsreform, offene Vorwahlen - auch für Nichtmitglieder - in der SPD durchzusetzen.

Vorbild Frankreich? Non, merci!

Währenddessen beherrschen in benachbarten Frankreich die Vorwahlen für die Präsidentschaftskandidatur in der dortigen sozialistischen Partei die öffentliche Debatte, sehr zum Unwillen des konservativen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy. Sechs Kandidaten des sozialistischen Spektrums stehen derzeit zur Auswahl. Gewählt wird zwischen dem 9. und 16. Oktober. Zumindest einige der Vorzüge eines solchen Verfahrens sind in diesen Wochen gut erkennbar. Die Bewerber müssen sich in diesem harten Ringen profilieren. Sie haben daher fast ausnahmslos Bücher verfasst, um ihre politischen Vorhaben zu begründen. Sie gehen wieder in die Banlieues, um Anhänger der unteren Schichten zu mobilisieren. Selten nur hat man in den letzten Jahren in den Vororten der "Marginalisierten und Abgehängten" so viele politische Plakate, Flugblätter und Versammlungen gesehen wie in diesem Herbst 2011. Und als Mitte September die erste Fernsehdiskussion zwischen den sechs sozialistischen Kontrahenten lief, schauten immerhin fünf Millionen Franzosen zu, was einen Marktanteil von 22 Prozent ausmachte. Die Sozialisten, über Jahre in einer schlimmen Depression steckend, hatten sich so selbst in Bewegung gesetzt und am 25. September die Senatswahlen gewonnen - erstmals überhaupt in der Geschichte der V. Republik. Zu alledem fehlt den weiterhin verblüffend bräsigen Sozialdemokraten in Deutschland die Courage.

Kurz: Es spricht in der Tat einiges dafür, dass die Sozialdemokraten demnächst wieder im Bundeskabinett vertreten sind. Aber politisch erneuert und vitalisiert hat sich die Partei nicht. Auf die Härte der sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Brüche, die bevorstehen, ist sie ebenso wenig vorbereitet wie der Rest der etablierten Politik.

Von Franz Walter