Karl Nolle, MdL
spiegel-online.de, 20:54 Uhr, 27.10.2011
EFSF-Votum im Bundestag - Land ohne Opposition
Die bundesdeutsche Republik ist dabei, an demokratischer Substanz durch den politischen Gleichklang in den Kernfragen der Nation zu verlieren.
So viel Harmonie ist besorgniserregend: Bei der Abstimmung im Bundestag über die Stärkung des Euro-Rettungsschirms schwenkte die Opposition auf Konsens ein - wie bei fast allen großen Debatten der jüngsten Zeit. In der deutschen Politik setzt sich eine Uniformierung des Denkens durch.
Die Kernfragen einer Nation wurzeln sicherlich in der Wirtschaft, gewiss auch in der Außenpolitik. Und da in Nationen die Interessen der Menschen nicht identisch, sondern kontrovers, bekanntlich nicht selten gar schroff gegensätzlich sind, ist in den parlamentarischen Systemen der hart geführte, grundsätzliche Streit über die großen substantiellen Fragen der Gesellschaft elementar. Bislang jedenfalls.
Seit einiger Zeit aber verflüchtigt sich diese bisherige Konstante der politisch-parlamentarischen Auseinandersetzung. In den Jahren der Schröderschen Agenda-Politik trat die CDU/CSU keineswegs als Kritikerin der politischen Richtung, die hier eingeschlagen worden war, auf. Sie bemängelte handwerkliche Fehler, das eine oder andere Detail. Aber im marktorientierten Ansatz der sozialstaatlichen Institutionentransformation waren alle einig, von den Sozialdemokraten über die Grünen bis hin zur Union und den Freidemokraten. Allein, in der Bevölkerung gab es durchaus stattliche Mehrheiten, die dem mit größtem Argwohn gegenüberstanden.
Ganz ähnlich gliederte sich die politische Konstellation im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Den Afghanistan-Einsatz stützte eine riesengroße Koalition der Bundestagsabgeordneten - durchweg gegen eine signifikante Mehrheit der Wahlbürger.
Und größer als alle Großen Koalitionen von Christ- und Sozialdemokraten jemals waren, präsentiert sich seit Wochen die Zustimmungsfront der Euro-Retter im Berliner Reichstag, auch hier: gegen eine weitverbreitete, aber parlamentarisch nicht mehr deutlich repräsentierte Skepsis in diesem Land.
Eingegliedert in die Einheitsfront
Auch die Wende in der Atomenergiefrage erfolgte vor Monaten als parlamentarische Breitbandmajorität allergrößten Umfangs, obwohl auch hier ein gutes Drittel der Bevölkerung die neue Uniformität keineswegs nachvollzog.
Die Hauptverantwortlichen in der Politik legitimieren eine solche Kluft gerne als Antipopulismus. Politische Führung müsse tun, was sachlich geboten sei, habe sich nicht von Stimmungen und Emotionen treiben zu lassen. Gänzlich abstrus ist eine solche Sichtweise natürlich nicht. Und in der Tat relativiert sie ganz gehörig die gängige Überzeugung, dass es in der Politik durch und durch opportunistisch zugehe. Wer allein auf die Akklamation des Volkes schielen würde, müsste derzeit anders handeln.
Doch ist dieses Volk in Demokratien nun einmal der Souverän. Und in der Bevölkerung existieren keineswegs allein irrationale, unaufgeklärte, provinzielle Bedenken gegen die derzeit erdrückende politische Hegemonie in Kernfragen der Nation. Aber diese Einstellungen haben keinen gewichtigen Adressaten mehr im Parlament. Zumindest hat ein Votum etwa für die SPD anstelle der CDU - oder umgekehrt - keine Signalwirkung für eine eigene politische Richtung, die sich vom Kurs der jeweils anderen Volkspartei kräftig unterscheidet. Grüne und Freie Demokraten haben sich ebenfalls in diese Einheitsfront eingegliedert.
Sehnsucht nach Einheit, Synthese, Autorität
Wenn wirklich jemand opponiert, dann wirkt das weithin wie unreife Donquichotterie; der Opponent gerät in den Geruch des Einzelgängerischen, des Typus "frustrierter Parlamentarier", der bei der Ämtervergabe vermutlich stets übergangen wurde. Opposition hat nahezu Hautgout, gilt keineswegs mehr als wesentlicher Ort der Demokratie, als zentrales Terrain für ganz andere Ideen und gesellschaftliche Interpretationen. Opposition ist im politischen Geschäft vielmehr entschieden negativ besetzt, scheint allein etwas für ahnungslose Träumer, starrsinnige Altlinke oder notorische Spinner zu sein. Natürlich auch - alle Welt denkt sogleich mit Schaudern an Oskar Lafontaine *** - für skrupellose Demagogen.
Eigentlich hatte man eine gute Zeitlang bereits den Eindruck gewonnen, dass der Anti-Oppositions-Effekt in dieser Republik seit den siebziger Jahren überwunden ist. Zuvor noch, im Jahrhundert zwischen Bismarck und Adenauer, war die Abscheu vor den Negierern und Quertreibern, die Angst vor dem Konflikt, die Sehnsucht nach Einheit, Synthese, Autorität tief im Humus der gesellschaftlichen Mentalität eingepflanzt. Doch plötzlich treibt dieses Gewächs abermals kräftig Blüten.
Indes: Die gegenwärtigen Negation des Oppositionellen meldet sich nicht in der Manier einer muffigen obrigkeitsstaatliche Gesinnung zurück. Es ist vielmehr der Gestus des zeitgemäßen Realisten und Pragmatikers, dem die Vorstellung einer ganz anderen, eben oppositionellen möglichen Realität nicht geheuer ist, dem wir derzeit begegnen.
Für den Pragmatiker existiert allein das, was er kennt, was ist - bzw. was er dafür hält. Er orientiert sich bei dem, was er für das Reale hält, stets am dominanten Deutungssystem. Einzig das ist dann Fakt; und es firmiert apodiktisch als einzig machbare politische Praxis. Der politische Realist möchte nicht gegen Windmühlen kämpfen. Was er vorfindet, wird gebieterisch zum Zwang der Verhältnisse erklärt, dem er - als "Realpolitiker" - nicht entrinnen kann, den er daher akzeptiert und sich ihm handelnd unterwirft.
Uniformierung des Denkens - Wie soll das gut gehen?
Der moderne Pragmatiker fürchtet in dieser Welt voller rasch anwachsender Komplexitäten zusätzliche Ambivalenzen; er mag keine Spannungen und Dialektiken; daher ängstigt ihn die Möglichkeit einer ganz anders gearteten Alternative in der Politik. Er leugnet die Potentialität vieler, kontrastierender Realitäten. Kurzum: Er schätzt keine elementare Opposition, erkennt ihre grundsätzliche Bedeutung zum Entwurf einer legitimen Gegenwirklichkeit nicht an, wittert darin lediglich irrationale Ideologie und plebiszitäre Verführung.
Der moderne Pragmatismus nähert sich in den Zeiten des Postparlamentarismus mit ihren kleinen wie ausschlaggebenden Exekutivzirkeln dem Denken der absolutistischen Vormoderne an, in welcher Politik als "Vollzug des Richtigen" galt - und jeder Zweifel daran rundum stigmatisiert wurde.
Das aber unterspült die Basis, auch die klassischen Legitimationsgrundlagen für Opposition im parlamentarischen System. Oppositionen sind nicht allein oder auch nur im Wesentlichen Regierungen im Wartestand bzw. auf Abruf. Denn der Ort der Opposition ist stets auch Terrain der Gegenmöglichkeit. Und so kann der Verlust an eigensinnigen Oppositionsparteien rasch den Vitalitätsverlust des Parlamentarismus insgesamt zur Folge haben.
Gewiss, die Weimarer Republik litt an einem Übermaß an Fragmentierung und Polarisierung. Die bundesdeutsche Republik allerdings ist dabei, an demokratischer Substanz durch den politischen Gleichklang in den Kernfragen der Nation zu verlieren. Die deutschen Gesellschaft hat sich weder sozial noch kulturell eingeebnet. In der Politik aber setzt sich mehr und mehr eine Homogenisierung und Uniformierung des Denkens durch. Wie soll das gutgehen?
Von Franz Walter
*** Anmerkung von Karl Nolle: Lafontaine auch nur in die Nähe eines hemmungslosen Demagogen zu stellen wird m.E. der Bedeutung und den Leistungen und Fähigkeiten des ehemaligen SPD Vorsitzenden (1995 - 99) in keiner Weise gerecht und unterschlägt völlig die für die SPD destruktive Rolle von Putins heute bestbezahlten Gasableser. Des Bastakanzler Schröders Agenda 2010 incl.Hartz IV lastet wie eine Grabplatte auf der SPD.