Karl Nolle, MdL

spiegel-online.de, 15:06 Uhr, 27.10.2011

Aufräumarbeiten im Finanz-Fukushima

"Wofür braucht man die SPD, wenn ihr zu so zentralen Fragen wie der Zukunft der Wirtschaftsverfassung, der Zukunft des Euro, der Zukunft Europas offenbar auch nichts anderes einfällt als der CDU?"
 
S.P.O.N. - Im Zweifel links !
Kolummne von Jakob Augstein

Überfordert und erschöpft mühen sich die Politiker ein weiteres Mal, den maroden Reaktor des Kapitalismus zu retten. Dabei lautet die einzige Lehre aus dieser Kernschmelze: Abschalten! Schützt die Staaten endlich vor den Märkten!

Berlin ist Entenhausen. Seit Mittwoch ist das amtlich. Schon die 440 Milliarden Euro des sogenannten Rettungsschirms, der Europa und den Euro auffangen soll, waren eine schwer vorstellbare Summe. Durch einen Trick der Finanz-Alchemie wurde daraus nun eine Billion Euro. Onkel Dagobert lässt grüßen. Der Unterschied ist nur: Die reichste Ente der Welt weiß, was sie tut. Wissen das die Parlamentarier auch? Weiß es die Bundesregierung?

Die Trümmer der europäischen Wirtschaftsarchitektur bergen eine vernichtende Gefahr für den ganzen Kontinent. Ein Finanz-Fukushima, dessen die Politik nicht Herr wird. Die entfesselten Märkte sind in den vergangenen drei Jahren nicht unter Kontrolle gebracht worden, die Kettenreaktion aus Schulden und Zinsen war bislang nicht zu stoppen. Woher soll das Vertrauen kommen, dass die lange Brüsseler Nacht nun die Wende bringen wird? Überforderung und Erschöpfung sind die Kennzeichen dieser Krise. Kein Experte könne ihr sagen, welcher Schritt der richtige sei, hat Angela Merkel gesagt. Umso schlimmer. Aber das ist nichts, was der Kanzlerin ohne ihr Zutun widerfährt. Sie ist verantwortlich. Seit Beginn der Krise im Jahr 2008 tut Angela Merkel ihr Bestes, den maroden Reaktor des Finanzkapitalismus wieder in Gang zu setzen während doch die einzige Lehre aus dem Desaster lauten muss: Abschalten!

Die Staaten müssen endlich vom instabilen Gefüge der Finanzmärkte ferngehalten werden, ihre Finanzierung muss über eine öffentliche Bank erfolgen, deren Zinspolitik dem öffentlichen Interesse folgt. Das war die französische Position - und die der Linkspartei. Aber der Mut, den Merkel gegen die alternde Atom-Lobby noch aufbringen konnte, der verlässt sie, wenn sie Josef Ackermann gegenübersteht.

Merkels Politik für Reiche

Der Begriff der Schuldenkrise hat sich durchgesetzt. Das ist ein Zeichen für den fortgeschrittenen Grad an Manipulation, dem die Öffentlichkeit ausgesetzt ist. Wenn einer Schulden hat, so klingt das, dann hat er zu viel Geld ausgegeben und muss sparen. Andersherum wird ein Schuh draus: Wir haben ein Einnahmeproblem, kein Ausgabenproblem. Deutschland gibt nicht zu viel Geld aus. Es nimmt zu wenig Geld ein. Die Arbeiter und Angestellten, deren Einkommen seit Jahren stagnieren, haben keineswegs über ihre Verhältnisse gelebt. Es sind die anderen, die ihre Verhältnisse beständig verbessert haben. In den vergangenen 20 Jahren sind die Geldvermögen von 1,8 Billionen auf mehr als 4 Billionen Euro gestiegen und die Staatsschulden von 600 Milliarden Euro auf rund 2 Billionen. Die Schulden des Staates sind die Vermögen der Reichen. Die Steuerpolitik ist ein Skandal: Die Vermögensteuer wurde abgeschafft, die Unternehmen- und Erbschaftsteuern wurden gesenkt, und der Spitzensteuersatz war niemals niedriger als heute.

Es ist nicht verwunderlich, dass Angela Merkel Politik für Reiche macht. Sie hat für ihre Klientelpolitik die beste Tarnung gefunden, die sich denken lässt: Pragmatismus. Wenn man den Menschen oft genug sagt, das eigene Handeln sei ohne Alternative, dann vergessen die Menschen, dass sich dahinter vor allem Interessen verbergen. Diese Entschuldigung hat die SPD nicht. Die SPD fühlt sich immer am wohlsten, wenn sie Gelegenheit hat zu beweisen, dass man auf sie zählen kann. Sie hat 1914 die Kriegskredite mitgetragen und trägt jetzt den Euro-Rettungsschirm mit. Nie wieder soll man Sozis als vaterlandslose Gesellen beschimpfen! Das Dumme ist nur: Wofür braucht man die SPD, wenn ihr zu so zentralen Fragen wie der Zukunft der Wirtschaftsverfassung, der Zukunft des Euro, der Zukunft Europas offenbar auch nichts anderes einfällt als der CDU?

"FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher hat gesagt: "Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik." Aber Schirrmacher ist Ästhet, kein Politiker, und seine Aussage trifft sicher nicht auf die SPD zu. Im Gegenteil. Wenn Peer Steinbrück über die Krise redet und darüber, wie man den Märkten engere Grenzen setzen kann, dann tut er das ohne Selbstbewusstsein und beruft sich gleich auf den gesunden Menschenverstand oder die soziale Marktwirtschaft.

Der Mann will Kanzler der Sozialdemokraten werden. Er könnte sagen, dass der Kapitalismus in die Irre gelaufen ist, dass er inzwischen nicht nur die Menschen und die Umwelt zerstört, sondern auch die Demokratie. Er könnte sagen, dass wir versäumt haben, aus der Krise von 2008 zu lernen, dass wir aber aus der gegenwärtigen lernen werden. Er könnte sagen, dass seine Kanzlerschaft eine der Erneuerung würde, eine des Umsteuerns und der Hoffnung. Er könnte etwas tun, was Angela Merkel nicht vermag: Vertrauen schaffen. Aber er verzichtet darauf.