Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 17:32 Uhr, 20.01.2012

Berlin: Massenauswertung von Handydaten empört Innenexperten

 
Das großflächige Abschöpfen von Handydaten sorgte 2011 in Sachsen für einen Polizei-Skandal, nun stellt sich heraus: Die Praxis ist auch andernorts beliebt. In Berlin werden im Kampf gegen Autobrandstifter offenbar regelmäßig Mobilfunkdaten ausgewertet. Datenschützer sind alarmiert.

Berlin - Es war eine beispiellose Spitzelaktion: Rund um eine Anti-Neonazi-Demonstration spionierte die Dresdner Polizei im Februar 2011 die Telefone Zehntausender Bürger aus. Scheibchenweise stellte sich heraus, dass die Behörden mehr als eine Million Datensätze sammelten, angeblich um schwere Straftaten zu verhindern. Die Affäre kostete den Dresdner Polizeipräsidenten am Ende den Job und belastete die sächsische Landesregierung schwer.

Seitdem sind Datenschützer besonders sensibel, wenn Telefone im Spiel sind. Jetzt beschäftigt sie erneut ein Fall, der Fragen aufwirft. Diesmal allerdings nicht in Sachsen - sondern in der Hauptstadt.

In Berlin werteten die Behörden in den vergangenen Jahren womöglich Tausende Handydaten aus, um Autobrandstiftern auf die Spur zu kommen. Das Instrument der sogenannten Funkzellenabfrage sei 2011 "in erheblichem Maße" genutzt worden, heißt es bei der Berliner Staatsanwaltschaft. Stets habe es richterliche Beschlüsse gegeben, betont die Polizei. Doch aufgrund der großflächigen Anwendung dürften auch viele unbescholtene Personen betroffen gewesen sein, kritisieren Datenschützer.

Vor allem ein Fall illustriert das Problem. Er liegt gut zwei Jahre zurück, wurde aber erst jetzt publik. Das Blog Netzpolitik.org veröffentlichte Teile einer Strafakte. Konkret geht es darin um eine versuchte Autobrandstiftung am 24. Oktober 2009 in der Rigaer Straße im Berliner Stadtteil Friedrichshain. Um ermitteln zu können, wer sich zur Tatzeit vor Ort befand, bat die Polizei den Dokumenten zufolge um Auskunft über "sämtliche Verkehrsdaten" von insgesamt 13 Mobilfunkzellen in der Umgebung. Vier große Mobilfunkbetreiber mussten daraufhin die Daten in der Zeit von 03.45 Uhr bis 05.00 Uhr am Morgen des fraglichen Tages offenlegen.

Funkzellenabfrage gilt als sensibler Bereich

Ein Problem wollen Staatsanwaltschaft und Polizei nicht erkennen. Rechtlich, so heißt es von Behördenseite, sei alles sauber gelaufen. In jedem Einzelfall ordne ein Richter die Datenerhebung an.

Die Funkzellenabfrage gilt als juristisch hoch sensibler Bereich. Üblicherweise speichern Provider die Daten von Handygesprächen für Abrechnungszwecke ab. Die Staatsanwaltschaft darf zwar Einsicht beantragen - laut Telekommunikationsgesetz bei Gefahr "gegen Leib oder Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder die persönliche Freiheit". Ob darunter auch Autobrandstiftung fällt, ist umstritten. In Hamburg wurden entsprechende Anträge zur Funkzellenabfrage gerichtlich bereits als unverhältnismäßig abgelehnt.

Zu Ausmaß und Umfang der Auswertung im Herbst 2009 äußerten sich auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE weder Polizei noch Staatsanwaltschaft. Ähnliche Datenmengen wie in Dresden dürften in diesem Falle zwar nicht angefallen sein. Anders als in Sachsen scheint die Erfassung der Handydaten zeitlich und räumlich begrenzt gewesen zu sein. Doch ist das Gebiet rund um die Rigaer Straße derart dicht besiedelt, dass Tausende Anwohner und Touristen in ihren Wohnhäusern und Hotels von den Auswertungen betroffen gewesen sein könnten.
Zudem sind viele Punkte noch offen. So ist etwa unklar, ob die Daten möglicherweise in andere Verfahren eingeflossen sind. Zugeknöpft geben sich Polizei und Staatsanwaltschaft auch zu der Frage, ob die betroffenen Personen von der Datenauswertung benachrichtigt wurden und wie regelmäßig das Instrument zum Einsatz kommt.

"Was ist mit den Daten geschehen?"

Entsprechend alarmiert sind Datenschützer und Innenexperten. Christopher Lauer, innenpolitischer Sprecher der Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, sagte SPIEGEL ONLINE: "Autobrandstiftungen rechtfertigen nicht den massiven Eingriff in die Grundrechte". Sollten sich die Vorwürfe bewahrheiten, zeige dies, "dass die Möglichkeiten von Überwachungstechniken zu leichtfertig angewandt werden." Lauer rief den Senat auf, so schnell wie möglich alle Fakten auf den Tisch zu legen: "Wer wurde wann in welchem Umfang überwacht - und was ist mit den Daten geschehen? Die Berliner haben ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung."

Der heikle Fall von Überwachung wird in der kommenden Woche zum Streitpunkt im Berliner Landesparlament: Am Montag tagt der Innenausschuss, dann soll der zuständige Innensenator Frank Henkel (CDU) Auskunft geben. Für Donnerstag haben die Piraten eine Aktuelle Stunde zum Thema beantragt. Der Datenschutzbeauftragte des Landes, Alexander Dix, forderte von der Berliner Polizei per Brief eine Stellungnahme.

Auch im Bundestag sorgt die massenhafte Handydaten-Auswertung für Empörung. Der Linken-Abgeordnete Wolfgang Neskovic bezeichnete das Vorgehen der Polizei als "kriminalpolitischen Blindgänger". Es sei ausgeschlossen, in einer Großstadt damit zu ermitteln, wer ein Auto angezündet habe, so der Rechtsexperte. "Selbst wenn sich aus der riesigen Datenmenge ein Verdächtiger herausfiltern ließe, wäre damit nur ein Indiz, nicht aber ein gerichtsfester Beweis erbracht", sagte Neskovic. Sollte die Möglichkeit der pauschalen Abfrage nicht abgeschafft werden, müssten zumindest die Voraussetzungen auf eng umgrenzte Ausnahmefälle beschränkt werden.

Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele, in dessen Wahlkreis der von der Abfrage betroffene Stadtteil Friedrichshain liegt, bezeichnete die Vorgehensweise als "rechtlich sehr problematisch". Die Verhältnismäßigkeit sei in dem bekannt gewordenen Fall nicht gegeben gewesen. Er forderte Berlins Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) sowie die Staatsanwaltschaft zu einer Stellungnahme zu der Frage auf, wie viele Telefonate und SMS erfasst und in welchen Verfahren diese Daten genutzt wurden.

Von Veit Medick und Annett Meiritz
Mit Material von dpa und dapd