Karl Nolle, MdL

DNN/LVZ, 24.01.2012

Erschreckendes Ausmaß an Antisemitismus

Expertenbericht sieht bei 20 Prozent aller Deutschen latente Judenfeindlichkeit
 
Berlin. Der Fragesteller von einer jüdischen Wochenzeitung hat mit seinem Zwischenruf für einen Moment der Verblüffung bei Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse gesorgt. Bei der Vorstellung eines Expertenberichts über Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung gestern in Berlin hatten die Wissenschaftler berichtet, rund 20 Prozent der Deutschen seien latent, also unterschwellig judenfeindlich eingestellt. Und diese unterschwellige Feindschaft sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ob man denn folglich davon ausgehen könne, wollte der Fragesteller von Thierse wissen, dass auch 20 Prozent des Bundestages latent antisemitisch seien.

Thierse verneinte dies mit dem Hinweis darauf, dass glücklicherweise keine rechtsradikale Partei im Berliner Parlament vertreten sei. Da hatte er wiederum die Expertenkommission auf seiner Seite. Rechtsextremismus sei nach wie vor der wichtigste politische Träger für Antisemitismus in Deutschland, heißt es in dem Bericht. Ein Expertengremium Antisemitismus hat daran seit Herbst 2009 gearbeitet. Es war im November 2008 zum 70. Jahrestag der NS-Pogromnacht vom Bundestag beschlossen und später berufen worden.

Die Wissenschaftler haben weitgehend Bekanntes aufgelistet. Mehr als 90 Prozent aller antisemitischen Straftaten würden durch Träger aus dem rechtsextremistischen Spektrum begangen. Antisemitismus sei ein wichtiges ideologisches Bindemittel innerhalb des uneinheitlichen rechtsextremistischen Lagers, sagte der Londoner Zeithistoriker Peter Longerich. Ein erhebliches Gefahrenpotenzial besitze jedoch inzwischen auch der Islamismus. Longerich beklagte, dass es bislang nicht genügend Untersuchungen gebe, inwieweit über islamistische Gruppen die Feindschaft gegen Juden auch unter in Deutschland lebenden Muslimen verbreitet werde.

Neben diese offene Form der Ablehnung, ja der Feindschaft bis hin zur Gewalt, stellten die Forscher den latenten Antisemitismus. Er sei trotz der Ächtung in der Öffentlichkeit in der Tiefe der Gesellschaft nach wie vor verankert. Er basiere auf Vorurteilen, tief verwurzelten Klischees und schlichtem Unwissen über Juden und Judentum. Angesichts moderner Kommunikationsformen wie des Internets sei eine Verbreitung judenfeindlichen Gedankenguts kaum zu unterbinden, warnen die Forscher.

Es wird beklagt, dass die Präventionsmaßnahmen wie die Bundesprogramme zur Förderung einer demokratischen Kultur verbesserungswürdig seien. Es existiere keine umfassende Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus. Projekte befassten sich zu selten mit dem Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft. Zudem fehle es an Verstetigung der Programme, die oft nur Modellprojektcharakter hätten, kritisierte Juliane Wetzel vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung.

Reinhard Urschel