Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 13:16 Uhr, 02.02.2012

Die drei ???

Im Zweifel links, Kommentar von Jacob Augstein
 
Was für ein Armutszeugnis: Die SPD will nicht gegen Angela Merkel kämpfen. Dabei bietet die Kanzlerin Angriffspunkte genug. Warum nur kapitulieren die Genossen, bevor die Schlacht begonnen hat?

Die SPD war in Klausur. Sitzungsthema: die Bundestagswahl im kommenden Jahr. Als die Genossen fertig geredet hatten, hat Sigmar Gabriel gesagt: "Es geht nicht um einen Wahlkampf gegen Kanzlerin Merkel." Nur zur Erinnerung: Der Mann ist Parteichef der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Erster Gedanke: Ist ein Arzt im Raum?

Zweiter Gedanke: Wer rettet die deutsche Sozialdemokratie vor ihren Funktionären?

Sigmar Gabriel, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier treten zwar als Führungstrio der SPD auf. In Wahrheit sind sie aber die drei Fragezeichen der deutschen Innenpolitik. Es ist rätselhaft, wie ein Kurs, der im Jahr 2009 ins Abseits geführt hat, im Jahr 2013 ins Ziel führen soll. Was ist das? Ein freudscher Wiederholungszwang?

Steinmeier hat schon einmal versucht, die Kanzlerin in ihrem eigenen Spiel zu schlagen: Er hat jedes Profil vermieden und war freundlich bis zur Unkenntlichkeit. Aber Merkel ist die kühle Meisterin der Macht. Sie regiert, als habe sie fernöstliche Weisheit mit Stäbchen gegessen: Sie will nichts, weil im Wollen der Verzicht liegt. Sie hat keine Visionen, weil Visionen den Blick verengen. Sie bekämpft niemanden, weil der Kampf neue Feinde schafft. Wie wollte Steinmeier gegen die unkenntliche Kanzlerin mit noch mehr Unkenntlichkeit auftrumpfen? Hätten die Wähler würfeln sollen, wo sie ihr Kreuz machen?

Nichts gegen Inhalte. Aber Politik ist ein personalisiertes Spiel

"Es geht nicht darum, gegen andere zu kämpfen, sondern für ein besseres Deutschland", hat Sigmar Gabriel jetzt gesagt. Das klingt ja ganz lieb. Ist aber leider ganz blöd. Denn erst mal müssen die anderen beiseite geschafft werden, bevor der Weg für das bessere Deutschland frei ist. Das ist Politik. Es ist sehr ehrenhaft, dass die SPD die Wahl mit Inhalten gewinnen will. Nichts gegen Inhalte. Man braucht schon Inhalte. Vor allem aber ist Politik heute ein personalisiertes Spiel. Und da bietet die Kanzlerin inzwischen Angriffsfläche genug.

Angela Merkel ist von der Krise gezwungen worden zu handeln. Und wer handelt, macht Fehler. Merkel hat in Europa viele Fehler gemacht: Es ist ihre Schuld, dass die Krise immer teurer wird. Ihr Starrsinn hat die Kosten der Griechen-Pleite explodieren lassen. Sie setzt auf Sparen, während nur Wachstum den Weg aus der Pleite weisen kann. Sie zwingt die Europäer unter die deutsche Knute der Sparsamkeit und nötigt dem ganzen Kontinent eine Medizin auf, die für die schwächeren Länder kaum zu ertragen ist. Dadurch wird alles viel schlimmer.

Das ist kein Geheimnis und auch keine Propaganda politischer Wirrköpfe. EU-Kommissionspräsident Barroso, IWF-Chefin Lagarde, der Italiener Monti, der Belgier Di Rupo, der Luxemburger Juncker - sie alle haben in den vergangenen Monaten mehr oder weniger unverhohlen Merkels nationalen Egoismus kritisiert. Denn das ist es, was diese Kanzlerin verfolgt: Sie opfert die gesamte deutsche Europa-Politik der Nachkriegszeit für ihren kurzfristigen innenpolitischen Vorteil.

Die Regierung besteht vor allem aus der Kanzlerin

Sie ist die erste Kanzlerin des Landes, die mit einem Schattenkabinett regiert: Die FDP befindet sich in Auflösung und die meisten Merkel-Minister führen ein Dasein in stiller Abgeschiedenheit. Die Regierung besteht vor allem aus ihrer Kanzlerin. Und die ist gefährlich: Merkel hat die deutsche Frage des 19. Jahrhunderts wieder geöffnet und die europäischen Nachbarn daran erinnert, dass ein in sich gekehrtes Deutschland immer wieder zur Gefahr für die europäische Stabilität werden kann.

Auf dem bedenkenlosen Boulevard der "Bild"-Zeitung wird gejubelt: "Starke Kanzlerin, starkes Deutschland." Weil man dort nicht wissen will, dass die politischen Schulden, die Merkel uns jetzt im Ausland aufhalst, um so vieles schwerer wiegen als jedes Finanzdefizit. Merkels Büchsenspanner bei der "Bild"-Zeitung besaufen sich am scheinbaren wirtschaftlichen Erfolg der konservativen Regierung: Arbeitslosenquote, Wirtschaftswachstum und Staatsdefizit - in Europa stehen die Deutschen bestens da.

Aber diese Zahlen sagen wenig darüber aus, ob die Kanzlerin Deutschland zu einem lebenswerteren Land gemacht hat. Sie gaukeln einen Wohlstand vor, von dem zu viele Menschen nichts haben. Deutschland liegt nämlich auch bei der Vertiefung der sozialen Ungleichheit und beim Abstieg der Mittelklasse vorn. Die deutschen Reallöhne sind laut ILO-Report von 2000 bis 2009 um 4,5 Prozent gesunken, während sie in Resteuropa zwischen 2,7 (Österreich) und 25 Prozent (Norwegen) gestiegen sind. Die 5000 bestverdienenden Haushalte haben seit Mitte der neunziger Jahre ihren Anteil am Gesamteinkommen um etwa die Hälfte gesteigert. Für jede Zahl des wirtschaftlichen Triumphs gibt es eine der sozialen Schande.

Warum wendet die SPD das nicht als Waffe gegen die Kanzlerin?

Wenn man bei Freud bleibt, könnte man sagen, die Sozialdemokraten leiden an einer Schicksals-Neurose, die auch Teil des Wiederholungszwangs ist. Man kann sich dann aus dem Muster von Schmerz und Niederlage nicht befreien, will es auch nicht. Bei Freud gehört all das zum Todestrieb.

Es ist ein Jammer, dass man eine Partei nicht auf die Couch legen kann.