Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 19:34 Uhr, 03.03.2012

Neonazis in Münster: Aufmarsch im Gutbürgerland

 
Neue Bühne, alte Parolen: Erstmals sind Hunderte Neonazis durch das zutiefst bürgerliche Münster marschiert. Die Stadt reagiert ebenso vorbildlich wie entschieden: Mit Transparenten, Sprechchören und Trillerpfeifenkonzerten protestieren Tausende gegen die Extremisten.

"Nee, nee", sagt der schnauzbärtige Taxifahrer und schüttelt den Kopf, "wenn ich das gewusst hätte." Seinem Wagen entsteigen in diesem Augenblick im Norden Münsters drei junge Männer mit auffallend kurzen Haaren. Sie tragen Jeans, Turnschuhe und Thor-Steinar-Jacken und begleichen den Fahrpreis mit einem Zehner. "Stimmt so." Doch der Chauffeur setzt nach: "Wenn ich geahnt hätte, dass ihr Nazis seid, hättet ihr laufen müssen."

Tatsächlich ist es im Jahr 2012 alles andere als leicht, die politische Ausrichtung am Outfit der Extremisten zu erkennen. Linke wie rechte Autonome tragen mittlerweile schwarze Windbreaker, Sonnenbrillen und Kapuzenpullis, so dass selbst ein erfahrener Staatsschützer der Polizei bekennt: "Das Freund-Feind-Schema ist auch für uns nicht immer ganz eindeutig."

Die Parolen jedoch sind noch immer von dumpfer Unverwechselbarkeit. "Hier marschiert der nationale Widerstand", grölen die etwa 300 Rechtsextremisten, die am Samstag erstmals durch ein Wohngebiet im westfälischen Münster ziehen dürfen.

Einer ihrer Anführer, der Paketfahrer Achim K., hatte sich zuvor in einer kruden Rede an dem "Großkapital" und der "Hochfinanz" abzuarbeiten versucht und dabei schlichteste Parolen verbreitet: "Macht die Grenzen dicht!" Sein Nachfolger am Mikrofon, ein noch weniger intellektuell wirkender "Kevin aus Hamm" fasste sich kürzer. Pest und viele Kriege habe Deutschland überstanden, also: "Packen wir's an!"

Die Polizei macht den Neonazis Druck

Doch so lächerlich die Vorträge, so ernst scheint der Hintergrund des Aufmarsches im Gutbürgerland. Nach Einschätzung der Behörden versuchen die Extremisten, in die von ihnen bislang kaum erschlossenen Gegenden vorzudringen und vielleicht auch auszuweichen. Denn in den bekannten nordrhein-westfälischen Neonazi-Hochburgen wie Aachen, Köln und Dortmund macht die Polizei den Ewiggestrigen inzwischen ordentlich Druck.

So kommt es, dass der ziemlich abgerissen aussehende, aber zahlenmäßig durchaus starke Haufen politisch Verirrter am Mittag durch eine feine Wohngegend zieht. Am Straßenrand, in den Einfahrten ihrer Einfamilienhäuser stehen Architekten, Rechtsanwälte und Buchhändlerinnen, brüllend, pfeifend, lärmend: "Nazis raus, Nazis raus", rufen sie - und ihre Kinder schreien mit: "Nazis raus!" Es ist der Aufstand der Anständigen, den der frühere Kanzler Schröder nach einem Brandanschlag auf eine Synagoge einstmals angemahnt hatte.

Überhaupt gelingt es in Münster, dass die wenigen Gewaltbereiten unter den Nazi-Gegnern nicht das Geschehen bestimmen. Von einigen Scharmützeln abgesehen, bei denen die Polizei auch Pfefferspray einsetzt, ist der Protest Tausender Menschen vorbildlich, nämlich friedlich, vielfältig und kreativ: "Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm, beim Nazi ist es andersrum", steht auf einem Transparent an der Wegstrecke.

Wie eine Abgeordnete zwischen die Fronten geriet

Die linke Bundestagsabgeordnete Ingrid Remmers allerdings macht am Morgen durchaus unangenehme Erfahrungen mit der Staatsmacht. Nach ihrer Darstellung hatte sie als parlamentarische Beobachterin versucht, einen Konflikt zwischen einem Demonstranten und einem Beamten zu schlichten. Dabei sei sie mit einer Polizistin in eine Diskussion geraten und von der Uniformierten schließlich gestoßen worden, sagte Remmers SPIEGEL ONLINE. Die Ordnungshüterin habe aber angegeben, dass die Politikerin nach ihr geschlagen habe, weshalb die wiederum gefesselt worden sei.

Obschon sie auch in der Folge immer wieder auf ihren Status als Parlamentarierin hingewiesen habe, sei sie schließlich stundenlang auf dem Präsidium festgehalten worden und habe sich dort auch entkleiden müssen, so Remmers. Die Behörde bestätigte die "vorübergehende Festnahme einer Bundestagsabgeordneten". Ein Sprecher sagte, es bestehe der Verdacht des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Die Politikerin will sich nun von einem Anwalt beraten lassen und erwägt, rechtliche Schritte gegen die Behörde einzuleiten.

Schwer verletzt wurde nach offiziellen Angaben ein Mann, der Polizisten mit Flaschen bewarf und sich gegen seine Festnahme "mit Fäusten" wehrte, wie der Polizeipräsident Hubert Wimber sagte. Insgesamt erlitten sieben Menschen körperliche Blessuren, darunter sind vier Polizisten. Etwa zwei Dutzend Personen wurden zeitweilig in Gewahrsam genommen.

Wimber hatte im Vorfeld des Aufmarsches deutlich machen wollen, dass die Polizei mitnichten Neonazis beschütze, wie ihr unterstellt worden war, sondern demokratische Werte garantiere. "Das Versammlungsrecht ist ein hohes Gut. Es ist das Recht des Andersdenkenden. Wir leisten es uns als Gesellschaft, dass selbst aus unserer Sicht absurde Meinungen öffentlich dargelegt werden können, solange die Grenzen der Strafbarkeit nicht überschritten werden", so der Polizeipräsident.

Doch auch wenn das Konzept der Sicherheitskräfte am Ende weitgehend aufging und eine direkte Konfrontation zwischen Linken und Rechten verhindert wurde, sind manche Ermittler ziemlich beunruhigt. "Wenn sich in der Szene herumspricht, dass die hier mit Hunderten Neonazis marschieren konnten", sagt ein Staatschützer, "dann kommen die wieder." In die Gutbürgerhochburg, nach Münster.

Von Jörg Diehl, Münster