Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 07.03.2012

Die Mädchen vom Jasmin

Als Jugendliche wurden zwei Frauen in ein Bordell verschleppt. Ein Jurist sei ihr Kunde gewesen, sagen sie. Nun stehen sie wegen Verleumdung vor Gericht.
 
Wenn die Justiz in Sachsen schon vor 20 Jahren gründlicher ermittelt hätte, wäre ihr dieser absurde Prozess erspart geblieben. Dann müsste Mandy Kopp nicht wegen Verleumdung auf der Anklagebank sitzen. Und Jürgen Niemeyer müsste sich nicht gegen den Vorwurf verteidigen, junge Mädchen im Bordell missbraucht zu haben. Diese ganze aberwitzige Geschichte um den angeblichen Sachsensumpf hätte es dann wohl nie gegeben.

Doch Anfang der 90er Jahre haben viele Institutionen noch nicht funktioniert. Wohl deshalb ist damals in Leipzig niemand ernsthaft der Frage nachgegangen, die bis heute Anlass für die wildesten Gerüchte bietet: Wer waren die Kunden im Wohnungsbordell Jasmin? Ob Mandy Kopp diese Frage heute noch wahrheitsgemäß beantworten kann, ist Gegenstand eines Prozesses, der gestern vor dem Amtsgericht Dresden begonnen hat und schon nach anderthalb Stunden auf Oktober vertagt werden musste. Kopp wird Verleumdung vorgeworfen. Sie soll den inzwischen pensionierten Richter Niemeyer beschuldigt haben, 1993 einer ihrer Freier gewesen zu sein, obwohl sie gewusst habe, dass dieser Vorwurf falsch und ehrenrührig sei.

Kopp war als 16-jährige Ausreißerin im Januar 1993 im Jasmin gelandet. Sie wurde dort zur Prostitution gezwungen und über einen Zeitraum von etwa zwei Wochen vergewaltigt, geschlagen und missbraucht. Das Bordell war in einer Privatwohnung in der Merseburger Straße in Leipzig untergebracht. Heute lebt Kopp in einem kleinen Dorf bei Koblenz. Wenige Tage vor Beginn des Prozesses hat sie einer Journalistin der „Zeit“ ihre Geschichte erzählt. Fünf Mädchen hätten damals im Jasmin gelebt, keine älter als 18 Jahre. Sie seien auf unterschiedlichen Wegen ins Bordell gekommen. Die Wochen im Jasmin seien für sie „ein fortwährendes Martyrium, eine immer wiederkehrende Vergewaltigung“, erzählte sie der Zeitung. Die Erinnerungen daran würden ihr Leben bis heute bestimmen. Sie fühle sich immer noch bedroht und versuche, ihre schlimmen Erlebnisse in Leipzig in einem Buch zu verarbeiten.

Das Jasmin flog Ende Januar 1993 auf, Kopp und die anderen Mädchen kamen frei. Der Zuhälter wurde zu vier Jahren Haft verurteilt. Es ist eine milde Strafe. Der Vorsitzende Richter in diesem Prozess war Jürgen Niemeyer. Niemeyer soll also zugleich Kunde im Bordell und Richter des Zuhälters gewesen sein. So stellt es Kopp heute dar – viele Jahre später. Dieser Vorwurf ist so ungeheuerlich, dass man sich fragen muss, warum sie ihn nicht schon damals während des Prozesses oder kurz danach enttarnt hat. Eine wirklich plausible Erklärung gibt es dafür bis heute nicht.

Die Geschichte in der „Zeit“ hat das öffentliche Interesse an ihrem Fall noch einmal enorm beflügelt. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung war gut gewählt. Der Weg in die Medien führt aber auch dazu, dass Mandy Kopp jetzt kaum noch eine Chance hat, ihre Behauptungen zurückzunehmen – wenn es denn nötig sein sollte. Der Saal 21 des Dresdner Amtsgerichts war gestern proppevoll. Kopp reagiert souverän auf die vielen Fotografen und Kamerateams, die sie schon am Eingang mit Blitzlichtgewitter in Empfang nehmen. Im Verhandlungssaal sitzt Beatrice E. neben ihr, eine Leidensgenossin aus dem Jasmin. Sie muss sich ebenfalls wegen Verleumdung verantworten. Beide Frauen unterhalten sich zwischendurch angeregt, plaudern mit Journalisten und Begleitern. Freunde haben den beiden Angeklagten Blumensträuße mitgebracht. Seine Mandantin werde nichts zurücknehmen, kündigt Kopps Anwalt an.

Auch Landtagsabgeordnete von SPD, Grünen und Linkspartei verfolgen wie eine Art Unterstützerkomitee das Geschehen. Der Fall hat in den Jahren 2007 und 2008 allerhand politischen Wirbel ausgelöst und beschäftigt – weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit – immer noch einen Untersuchungsausschuss im Landtag. In den hinteren Reihen des Gerichtssaals hat eine 10. Klasse des Bertolt-Brecht-Gymnasiums Platz genommen. Die 22 Jugendlichen wollten eigentlich einen stinknormalen Betrugsprozess verfolgen und sind nun hier gelandet. „Ich vermute, die Auswertung wird lange dauern“, sagt Gemeinschaftskunde-Lehrerin Elke Streller.

Mandy Kopp hat sich bisher vor der Öffentlichkeit versteckt. Bei ihrer Aussage vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags im April 2009 galt absolutes Film- und Fotografierverbot. Ihr Tarnname war „Sarah“. Irgendwann in den letzten Monaten muss sie sich entschlossen haben, in die Offensive zu gehen und ihre Version publik zu machen. Sie will als Opfer betrachtet werden und nicht als Täterin. Gestern kritisierte sie ausdrücklich, dass die Staatsanwaltschaft sie in der Anklageschrift „Prostituierte“ nennt. Sie sei zur Prostitution gezwungen worden. Diese Bezeichnung sei daher herabwürdigend für sie und die anderen Betroffenen. „Dagegen stellen wir uns.“ Was ihre Erwartung an diesen Prozess sei, wird sie gefragt. „Ein Freispruch“, antwortet sie.

Während Mandy Kopp in die Mikrofone spricht, packt Jürgen Niemeyer seine Akten in die Tasche und verschwindet wortlos. Er ist Nebenkläger in diesem Verfahren und sitzt neben dem Staatsanwalt. Auch der sieht reichlich bedient aus. In einer Verhandlungspause beteuert Niemeyer, dass es ihm egal sei, welche Strafe die beiden Frauen bekämen. „Ich möchte nur, dass öffentlich klargestellt wird, dass ich nie Kunde im Jasmin war.“ Das Land Sachsen hat ihm nach zähen Verhandlungen eine Entschädigung in Höhe von 7.500 Euro dafür zugesprochen, dass der Verfassungsschutz Akten mit obskuren Behauptungen zweifelhafter Quellen angelegt hat und diese an die Öffentlichkeit gelangt waren. „Diese Geschichte hat mich fertiggemacht.“

Die Staatsanwaltschaft Dresden steckt mit ihrer Anklage in der Defensive. Gegen ein Vergewaltigungsopfer wirken ihre Vorwürfe fast unmenschlich. Wenn eine Zeugin bei ihrer Aussage falsch liege, dürfe das nicht zu einer Anklage wegen Verleumdung führen, sagen Kritiker. Schließlich durfte sie die Aussage nicht verweigern.

Die Staatsanwaltschaft führt dagegen den Rufmord an Jürgen Niemeyer als Argument ins Feld. Bis heute sind die Vorwürfe gegen ihn im Internet nachlesbar. Sie sieht zudem krasse Widersprüche in den Aussagen der Angeklagten zu den Angaben der anderen Frauen. Ihr Verdacht: Die Frauen wurden von Journalisten manipuliert, die ihnen gezielt Fotos von Richtern und Staatsanwälten vorgelegt hatten und dann ihre Geschichte veröffentlichten. Erst danach wiederholten die Frauen ihre Aussagen bei der Staatsanwaltschaft. Eine so detailreiche Erinnerung, wie sie die Angeklagten vorgebracht hätten, sei außerdem nach diesem langen Zeitablauf fragwürdig, glauben die Ermittler.

Der Versuch der Staatsanwaltschaft, den Prozess am Landgericht zu führen, scheiterte. Das Landgericht fasste die Akten nur mit spitzen Fingern an und verwies auf die Zuständigkeit des Amtsgerichts. Der Prozess mit 35 Zeugen sei für einen Strafrichter zumutbar, hieß es. Ein besonderes öffentliches Interesse bestehe an diesem Fall ohnehin nicht – eine Vermutung, die spätestens seit gestern als widerlegt gelten dürfte. Richter am Amtsgericht Herbert Dietz ließ dann erst einmal drei Jahre verstreichen, bis er im Oktober vorigen Jahres einen ersten Prozesstermin ansetzte. Eine Angeklagte wurde jedoch krank und so traf man sich gestern zum ersten Mal.

Staatsanwalt Christian Kohle las die Anklage vor, doch das war es dann auch schon wieder. Die Frage, wer lügt und wer die Wahrheit sagt, stand gestern wieder nicht auf der Tagesordnung. Weder Mandy Kopp noch Jürgen Niemeyer nutzten die Gelegenheit, Erklärungen abzugeben. Stattdessen zogen sich Richter, Verteidiger und Staatsanwalt zu einem etwa einstündigen Rechtsgespräch zurück. Das Ergebnis: Der Prozess ist geplatzt. Ein Deal ist offensichtlich nicht zustande gekommen. Jetzt muss Richter Dietz Zeugen laden und Prozesstermine ansetzen. Das klappe aber erst im Oktober, weil zwischendurch Sommerferien sind, sagte er.

Ob die Zeugen dann bei einer Neuauflage überhaupt noch zur Aufklärung beitragen können, ist zweifelhaft. Die Anklage stammt vom November 2008, das Jasmin gibt es seit Anfang 1993 nicht mehr. Wie gesagt: Hätte die Justiz vor 20 Jahren gründlicher gearbeitet und schon damals die Bordellkunden ermittelt, wäre allen Beteiligten dieses Verfahren erspart geblieben.

Von Karin Schlottmann