Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 07.03.2012

Ist der Rechtsstaat im Osten angekommen?

Gleiches Recht gilt für alle, bei Meinungsäußerungen wie bei Demonstrationen – das mussten die Dresdner am 13.Februar lernen.
 
AUS MEINER SICHT
Von Peter Lames

Unser Vertrauen in die deutsche Justiz ist groß.“ Ein schlichter Satz, ein großer Satz. Ismail Yozgat hat ihn gesagt bei der Gedenkstunde für die Opfer einer Mordserie, die erst mit dem Tod der Hauptverdächtigen rechtsterroristischen Hintergründen zugeordnet wurde. Ismail Yozgat hätte allen Anlass gehabt, sein Vertrauen erschüttert zu sehen. Sein Sohn war unter den Opfern. Jahrelang hatten Polizei und Justiz naheliegende Ermittlungsansätze nicht verfolgt, hatten eher noch Verdacht gegen die Angehörigen der Opfer selbst geschöpft.

Vertrauen in die Justiz meint Vertrauen in den real existierenden Rechtsstaat. Würde heute bei einer Umfrage eine breite Mehrheit in Ostdeutschland vergleichbares Vertrauen bekunden? Für das Alltagsgeschäft der Justiz habe ich da wenig Zweifel. Die Erfahrungen mit der Justiz bei den konkret Betroffenen dürften kaum anders sein. Wer geht schon leichten Herzens zum Gericht, wer kommt schon vollständig zufrieden nach Hause? Das höchste Lob muss daher bescheiden ausfallen. Eine Rechtsanwältin, die Perspektive ihrer rechtsunkundigen Mandanten wiedergebend, hat es einmal für viele Kolleginnen und Kollegen ausgesprochen: „Wer bei euch verliert, hat wenigstens eine Ahnung davon, dass es nicht ohne Grund geschehen ist.“ Da Gerichte und Behörden keine Wellnesstempel sind, geht mehr Lob eigentlich gar nicht.

Wie sieht es aber mit dem Vertrauen aus, dass der Rechtsstaat auch die Grundfragen von Staat und Gesellschaft gerecht beantwortet? Die Dresdner Diskussion beispielsweise um die Erinnerung an den 13. Februar 1945 lässt mich zweifeln, ob die Menschen sich im Rechtsstaat so richtig zu Hause fühlen. Oft hört und liest man die Forderung: Alle Demonstrationen verbieten. Das ist im Rechtsstaat aus guten Gründen nicht zu verwirklichen. Manche wollten einfach trickreich einen Bürgerentscheid zum Demonstrationsverbot machen. Aber der Rechtsstaat setzt eben jedem Souverän Grenzen, sei die demokratische Legitimation noch so stark. Breite Zustimmung findet dann bei vielen die Haltung, die unerwünschte Meinung erst gar nicht zu Wort, die unerwünschte Demonstration erst gar nicht zum Laufen kommen zu lassen. Wenn sich der Rechtsstaat dem entgegenstellt, macht er sich eher keine Freunde.

Aber für Verständnis will ich doch werben. Versammlungsbehörden, Verwaltungsgerichten und Polizei kommt es nicht darauf an, den Missbrauch des Gedenkens durch die Neonazis zu verteidigen, auch nicht die Geschichtsverfälschung durch braunen Opferkult unter Verschweigen des verbrecherischen Angriffskrieges, der erst die Zerstörung Dresdens mit seinen Opfern möglich gemacht hat. Sie wollen und müssen aber verteidigen, dass gleiches Demonstrations-Recht für alle gilt, dass Meinungen unabhängig von ihrem Inhalt geäußert werden dürfen, solange damit nicht gegen Gesetze verstoßen wird. Sie dürfen den Rechtsstaat nicht missachten – auch nicht in der Absicht, ihn zu verteidigen.

Die Freiheit von Meinung und Demonstration schützt der Rechtsstaat nicht nur vor staatlicher Macht, sondern auch vor Beeinträchtigung durch andere Bürger. Es ist strafbar, Demonstrationen anderer durch gezielte Maßnahmen zu unterbinden. Deshalb begründen Blockaden den Anfangsverdacht einer Straftat. Diesen zu verfolgen, ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft, ohne Ansehen der Person, ohne Berücksichtigung von Motiven, die den Straftatverdacht nicht ausräumen können. Das ist ein Fundament des Rechtsstaates, das sich gerade im unbequemen Fall bewähren muss, wenn – glücklicherweise – nur wenige das Anliegen der geschützten Demonstration teilen. Zugleich wahrt der Rechtsstaat die Verhältnismäßigkeit: zum Beispiel durch eine von vornherein geringe Strafandrohung oder durch die Möglichkeit der Verfahrenseinstellung bei geringer Schuld.

Die rechtsstaatliche Pflicht zur Verfolgung jeder Straftat, das sogenannte Legalitätsprinzip, leuchtet sicher den meisten ein. Das Legalitätsprinzip muss aber auch ungebrochen gelebt und praktiziert werden. Da zeigt sich der Rechtsstaat in Sachsen nicht immer von seiner besten Seite. Ein bis heute prägendes Beispiel ist für mich die langfristige Miete des Behördenzentrums in Leipzig-Paunsdorf. Es wäre viel besser gewesen, wenn die Staatsanwaltschaft in diesem Falle konsequent und ohne Rücksicht auf mögliche prominente Betroffene in Regierung und Verwaltung ermittelt hätte. Denn es gab einen Anfangsverdacht der Veruntreuung von Haushaltsgeldern durch überteuerte Miete von in diesem Umfang nicht benötigten Räumen.

Die Staatsanwaltschaft aber hat in der Sache nicht ernsthaft ermittelt. Im Einzelnen mag manches noch vertretbar sein, vielleicht auch einer der Irrtümer, die der Rechtsstaat aushält. Insgesamt kann aber nur an die Verantwortlichen appelliert werden, die Bindung an Gesetz und Recht sehr gewissenhaft zu leben. Staatsanwälte mit Scheren im Kopf wären keine Werbung für den Rechtsstaat. Das gilt umso mehr, als der Rechtsstaat Vertrauen aller Beteiligten guten Willens voraussetzt. Das wird aber strapaziert, wenn, wie im sogenannten Sachsensumpf geschehen, zuerst die Regierung parlamentsöffentlich auf der Grundlage von amtlich erhobenen Informationen die Mafia unter uns sieht und wenig später alles zu einem Missverständnis erklärt wird.

Wir sollten uns nicht in die eigene Tasche lügen: Der Rechtsstaat im Osten muss noch mehr Vertrauen gewinnen. Schon die Startbedingungen waren nicht leicht. Fremdheit und Unerfahrenheit vieler Repräsentanten der Justiz waren angesichts des Neuaufbaus nicht zu vermeiden. In den Augen vieler hat der Rechtsstaat vor allem Bürokratie und Unverständlichkeit gebracht. Die Klagen darüber verbinden Unternehmer und Empfänger von Sozialleistungen. Wer auch nur einmal über die Flure des Jobcenters gelaufen ist, wird Schwierigkeiten haben, beim Wort Rechtsstaat positive Gefühle zu empfinden. Nicht zuletzt steht aus der Sicht vieler in Ostdeutschland der Rechtsstaat für eine Geringschätzung dessen, was in der DDR von jedem und jeder Einzelnen geleistet wurde. Denn für viele schwingt im Wort „Rechtsstaat“ auch eine Abgrenzung mit, nämlich vom Unrechtsstaat DDR. Hier ist nicht die richtige Stelle, um darüber zu streiten, ob die DDR ein solcher war. Das hängt davon ab, was man unter einem Unrechtsstaat versteht. Aber es kommt eben nicht gut an, die seinerzeitigen Verhältnisse in Bausch und Bogen zu verdammen. Dem Rechtsstaat wird dann schnell eine Aggressivität gegen die Biografie seiner Bürger im Osten zugeschrieben, die ihm, bei Lichte besehen, fremd ist. Denn gerade das differenzierte Betrachten der Wirklichkeit ist seine Stärke.

Zurück zu Dresdens Februartagen. Nach 2011 war viel Nachdenken über den Rechtsstaat. Blockaden, Gewalt gegen die Polizei, Durchsuchung der Räume einer Oppositionspartei, umfangreiche Ermittlung von Telefonverbindungsdaten. Politiker waren überrascht von der Anwendung von Vorschriften, die sie selbst beschlossen hatten. Der Datenschutzbeauftragte kontrollierte, wo die unabhängige Justiz die Maßnahmen angeordnet hatte und auch (meines Erachtens allein) nachträglich zur Kontrolle und Bewertung der Rechtmäßigkeit berufen ist. Ein anderes Bild gab es 2012: Demonstrationsrecht gewahrt für alle, verhältnismäßiger Einsatz von Polizei und Justiz, Raum zur Entfaltung vielfältigen Erinnerns an Krieg und Zerstörung. Um den Rechtsstaat war es stiller. Aber so ist es: Der Rechtsstaat kann politische Verantwortung nur unterstützen, niemals ersetzen. Dresden ist damit im Februar 2012 sicher nicht optimal, aber doch besser zurechtgekommen als zuvor.

Was wir am Rechtsstaat haben, müssen wir immer wieder verdeutlichen. Wenn über den Rechtsstaat verständlich und wahrhaftig geredet, wenn allseits vorurteilsfrei zugehört wird, dann kann Verfassungspatriotismus an die Stelle von Staatsmüdigkeit treten. Dann wird der Satz von Ismail Yozgat breite Zustimmung finden: „Unser Vertrauen in die deutsche Justiz ist groß.“

Peter Lames ist Vorsitzender Richter am OLG

Der Dresdner SPD-Fraktionschef Peter Lames ist neuer Vorsitzender Richter des Senats für Familiensachen am Oberlandesgericht (OLG) Dresden. Justizminister Jürgen Martens (FDP) sagte bei der Ernennung: „Das Oberlandesgericht erhält mit Peter Lames einen Vorsitzenden Richter, der aufgrund seiner juristischen Fähigkeiten und beruflichen Erfahrungen die Herausforderungen des neuen Amtes mit Erfolg meistern wird.“

Lames stammt aus Wittlich in Rheinland-Pfalz. Nach Stationen im Justizministerium und bei der Staatsanwaltschaft arbeitet er seit 2000 als Richter. Zuletzt war er Vorsitzender der Staatsschutzkammer am Landgericht Dresden, wo er einen Prozess noch zu Ende führen wird. Das OLG ist das höchste sächsische Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit. (SZ)