Karl Nolle, MdL

DIE ZEIT, 22.3.2012 Nr. 13, 23.03.2012

Landespolitik in Sachsen "Diese Blutleere!"

Zwei Jahrzehnte lang stand Harald Noeske als leitender Beamter im Dienst des Freistaats. Nun spricht er über die Zeit – geradeheraus
 
Harald Noeske wohnt in einer Villa an Dresdens Großem Garten. Seine Frau betreibt daheim eine Galerie. Kunst ist sogar der Tisch, an dem das Gespräch stattfindet – er ist aus recycelten Ketchup-Flaschen gepresst. Dahinter lehnt ein gerahmtes Poster: »Konturen eines Amtsarsches«, ein Werk des sozialdemokratischen Karikaturisten Klaus Staeck. Humor hat Noeske. Und ein feines Gespür

DIE ZEIT: Herr Noeske, haben Sie mit der Dresdner Staatskanzlei noch eine Rechnung offen?

Harald Noeske: Ganz bestimmt nicht! Ich habe fast ein Jahrzehnt lang dort gearbeitet, und es würde mir sehr leid tun, wenn dieser Eindruck beim Lesen meines Buches entstünde. Eine offene Rechnung? So etwas hat mich nicht angetrieben. Ich bin im Jahr 2000 in die Staatskanzlei gekommen, als Referatsleiter für Bildung, Kultur, Wissenschaft – alles Schöne, was es in Sachsen gibt.

ZEIT: Bis Ende 2010 waren Sie dort.

Noeske: Mit 66 – gut ein Jahr über dem Soll – bin ich voller Eintracht aus der Staatskanzlei geschieden. Als es noch keinen Nachfolger gab, habe ich einige Monate drangehängt. Stanislaw Tillich hat mich sogar gefragt, ob ich ihm auch weiter beratend zur Verfügung stehen könnte.

Harald Noeske: Ein Kritiker, zwei Vorbilder

geboren 1944 in Potsdam, studierte von 1967 bis 1971 Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Philosophie in Hamburg und Freiburg. Anfang der 1970er Jahre war er wissenschaftliche Hilfskraft bei Wilhelm Hennis, der auch sein akademisches Vorbild wurde. Von 1972 bis 1991 war Noeske Referent in den Ministerien für Kultus und Wissenschaft Baden-Württembergs; 1991 zog er nach Sachsen: Zunächst war er als Referatsleiter im Wissenschaftsministerium tätig; vom Jahr 2000 an als Referatsleiter für Bildungspolitik in der Staatskanzlei. Er ist verheiratet und hat fünf Kinder.

Noeske stützt seine Analysen auf die Sozialwissenschaftler Max Weber und Wilhelm Hennis. Weber, geboren 1864 in Erfurt, gilt als einer der Begründer der Soziologie. Zu seinen Ideen gehört auch, dass Beamte nicht nur verwalten, sondern ihr Fachwissen aktiv zum Gelingen der Politik einbringen sollen. Entscheidungsprozesse, so Weber, müssten protokolliert werden; das schaffe Transparenz und löse Vorgänge von der privaten Atmosphäre des Gesprächs – eine Praxis, die umgangen wird, wenn sich ein Ministerpräsident von Personen seiner Wahl stets direkt beraten lässt.

Wilhelm Hennis, geboren 1923 in Hildesheim, machte 1942 sein Abitur in Dresden. Er studierte Jura und profilierte sich später als präziser Kommentator der politischen Entwicklung. Anstoß nimmt er etwa am schwindenden Einfluss der Landesparlamente, die durch bundespolitisch vernetzte Landesregierungen entmachtet würden. Das untergrabe den Föderalismus zugunsten der Parteien.

ZEIT: Sie wurden gleich nach der Wiedervereinigung Beamter in Sachsen. Wie kam das?

Noeske: Geholt hat mich der erste Wissenschaftsminister Hans Joachim Meyer (CDU). Ich arbeitete im Stuttgarter Wissenschaftsministerium, war mir aber sicher: Die Zukunft liegt im Osten! Hier konnte man was bewegen. In Baden-Württemberg wurden die Dorfkerne bereits zum dritten Mal neu gepflastert, da war einfach nicht mehr viel los.

ZEIT: Thomas de Maizière...

Noeske: ...hat mich aus dem Ministerium in die Staatskanzlei gebracht, wo ich geblieben bin. Und nach ihm kam eine bunte Reihe von blassen Figuren.

ZEIT: Nun haben Sie in einer selten gründlichen Arbeit analysiert, wie Sachsen unter den Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, Georg Milbradt und Stanislaw Tillich (alle CDU) regiert worden ist. Nach dem Lesen Ihres Insiderberichtes meint man: Die Regierung ist in eine Art Dornröschenschlaf gefallen. Und sie schläft von Jahr zu Jahr fester.

Noeske: Ich würde mir in der Politik jedenfalls mehr Leben wünschen.

ZEIT: Sie konstatieren Blutleere.

Noeske: Substanzlosigkeit und Blutleere, das ist meine Diagnose, ja.

ZEIT: Im Buch nennen Sie die Staatskanzlei ein »Organisationsbüro für die nächste Woche«. Das heißt, es gibt keine Programmatik, keine Visionen?

Noeske: Das ist das Defizit, das ich beklage. Ich sehe einen Teil der Ursachen in der mangelnden Professionalität, mit der Politik und Verwaltung geführt werden.

ZEIT: Erwarten Sie Ärger mit Exkollegen, weil es ein ungeschriebenes Gesetz gibt: Über das Innenleben der Regierung spricht man nicht?

Noeske: Das glaube ich nicht. Die einen werden sich spitzbübisch freuen, dass jemand mögliche Missstände benennt. Die anderen sind klug genug, um sich kritisch damit auseinanderzusetzen, wie ich das tue. Das hoffe ich zumindest.

ZEIT: Bisweilen entsteht der Eindruck, diese Staatskanzlei sei ein Ort der Angst.

Noeske: Ein Ort der Unsicherheit. Das trifft’s eher.

ZEIT: Zugleich wird nach außen der Eindruck erweckt, man sei sich sicher: Wir sind die Besten!

Noeske: Tja.

ZEIT: Wieso wirkt Landespolitik immer matter?

Noeske: Es zeigt sich, dass sie, na ja, zunehmend ausgepowert ist, Substanz verliert. Einerseits, weil der Föderalismus insgesamt schwächer und schwächer wird; weil Kompetenzen nach Brüssel und zum Bund wandern, weil die Leute keine Unterschiede zwischen den Ländern mehr wollen.

ZEIT: Und der handelnden Personen wegen?

Noeske: Aber ja. Der politischen Kaste fehlt die Bereitschaft, ihren Spielraum auszuschöpfen. Die schier einzige Art und Weise, wie im Land noch Politik gemacht wird, ist das Aufstellen von Förderprogrammen: Ziele, die Brüssel oder Berlin vorgeben, werden hier exekutiert.

ZEIT: Sie nennen Ihr Buch über 20 Jahre Regierungsarbeit in Sachsen einen »kritischen Erfahrungsbericht«. Warum kritisch?

Noeske: Ich war mit Leib und Seele Beamter, rund 40 lange Jahre. Ich bin aber immer auch Politikwissenschaftler geblieben. Deshalb habe ich mir eine kritische Distanz zu dem bewahrt, was um mich herum passiert. Kritisch sein heißt, sich ein Urteil zu bilden. Ich habe mir ein Urteil gebildet, ohne zu verurteilen. Und das Urteil habe ich aufgeschrieben.

ZEIT: Die Betrachtung eines Veteranen, der das Lied anstimmt: Früher war alles besser?

Noeske: Den Eindruck wollte ich vermeiden. Andererseits: Ja, früher war alles besser! Man hat eine solche historische Situation, wie wir sie 1990 bekamen, gewiss nicht alle Jahre. Aber das ist vorbei. Jetzt müssen wir uns mit dem auseinandersetzen, was wir vor uns haben.

ZEIT: Verspüren Sie noch Loyalität gegenüber den Ministerpräsidenten, denen Sie gedient haben?

Noeske: Bei aller Wertschätzung der Menschen – Loyalität verspüre ich nicht. Nicht über meine innere Verpflichtung dem Staat gegenüber hinaus. Ich wollte ein kritisches Urteil fällen. Auf der anderen Seite wollte ich aber nicht den Eindruck erwecken, jetzt mit meiner Vergangenheit abrechnen zu wollen. Mein Anliegen ist es, die Linie von 1990 bis 2010 nachzuzeichnen. Ich wollte transparent machen, was seit 1990 in Sachsen politisch gelaufen ist.

ZEIT: Was gehört zu dieser Linie?

Noeske: Dazu gehören zunächst einmal drei Ministerpräsidenten. Kurt Biedenkopf, der politische Führung mit Intellekt ausgeübt hat, vor allem durch Reden und Interviews; und der sich eine hervorragende Mannschaft zusammengestellt hat – obwohl er, wie mir sein Staatskanzleichef Günter Meyer sagte, sich in Personalfragen unsicher zeigte. Dann Georg Milbradt, der zwar ebenfalls hochintelligent ist – aber vor allem auf Sachkompetenz Wert legte. Als Milbradt an die Spitze kam, war das Feld schon beackert. Da wurde es schwieriger, politische Erfolge einzufahren. Leider wurde er vom Schatten Biedenkopfs verfolgt. Und er musste eine Koalition führen. All das machte ihm das Leben schwer.

ZEIT: Über die letzten Jahre Regierungspolitik unter Stanislaw Tillich schreiben Sie, es gehe immer weniger um inhaltliche Arbeit. Stattdessen seien viele Termine gemacht worden, deren Botschaft sich im Bewerben eines »sympathischen Ministerpräsidenten« erschöpft hätten. Wie kommt das?

Noeske: Das kommt daher, dass die Leute eben einen sympathischen Ministerpräsidenten wollen. Ich würde mir ja mehr Substanz wünschen. Aber wollen das die Leute? Milbradt etwa hat kluge Reden gehalten, die aber oft gar nicht verstanden wurden.

ZEIT: Tillich macht es also richtig, wenn er nicht auf Inhalte setzt, sondern auf Sympathiewerte?

Noeske: Die These kann man vertreten. Ich würde sogar sagen, dass sich die Politik der Staatsregierung weitgehend auf dies beschränkt: Kontakt halten. Kommunizieren. Worüber, ist letztlich egal!

ZEIT: Warum hat das vermeintlich fortschrittlichste Land des Ostens eine schwache Staatskanzlei?

Noeske: Da halte ich mich an meinen Lehrer, den Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis: Die Richtlinienkompetenz des Regierungschefs ist hoch wichtig, da sie den Ministern zeigt, wo sie langlaufen sollen. Bei Biedenkopf hat das souverän geklappt. Aber schon Milbradt musste sich auf Koalitionen einlassen. Da wird es mit der Ausübung von Richtlinienkompetenz schwieriger. Dass ein Ministerpräsident über den Dingen thront und nur Impulse geben muss? In Sachsen längst vorbei. Denn das setzte voraus, dass man Politiker im Parlament hat, die diesen Weg stützen. Die wissen, dass sie vom Erfolg des Regierungschefs abhängen, und nicht umgekehrt immer wieder versuchen, dem Regierungschef in die Suppe zu spucken. Voraussetzungen, die bei Milbradt schon sehr viel weniger erfüllt waren. Und die bei Tillich nicht erfüllt sind.

ZEIT: Die Staatskanzlei ist immer nur so gut wie der Staatskanzlei-Chef?

Noeske: Natürlich.

ZEIT: Sie sagen, nach Thomas de Maizière kamen vor allem Statisten…

Noeske: Mir hat danach einfach die Orientierung gefehlt. Und ich habe mich nach längerfristigen Zielen gesehnt. Die hat es im Laufe der Jahre immer weniger gegeben. Was die Mitarbeiter der Staatskanzlei bringen können, wird nicht abgerufen.

ZEIT: Wie oft arbeiten die Ministerialbeamten für den Mülleimer?

Noeske: Da müssen Sie differenzieren. Im Wissenschaftsministerium, überhaupt in jedem Fachministerium, hat man seine Verantwortung, seine Aufgaben, an denen man arbeitet. In der Staatskanzlei ist es anders. Da hat man keine Aufgaben per se. Man versucht, ein bisschen Input zu geben. Aber es ist ganz schwer, ohne langfristige Ziele eine Orientierung zu finden.

ZEIT: Sie schreiben, dass die Staatskanzlei sich nicht mehr nur Leute ins Team hole, die durch Kompetenz hervorstechen. Stattdessen werde vor allem auf Loyalität Wert gelegt.

Noeske: Es geht in diese Richtung. Denken Sie an Max Weber: Die Bürokratie, die Verwaltungsebene, soll ihren Sachverstand in die Politik einbringen. Sie soll den Politikern ermöglichen, sachkompetente Entscheidungen zu treffen. Nur interessieren sich die Politiker nicht mehr für den Sachverstand.

ZEIT: Und die Bürokraten langweilen sich.

Noeske: Manche schon. Ich nenne diesen Zustand »persönliches Regiment«. Es wird von leitenden Mitarbeitern geführt, die besonderen Wert auf ihre persönlichen Meinungen und ihr persönliches Wissen legen, die diese zum Maßstab ihres Handelns machen. Die die Experten kaum mehr anhören.

ZEIT: Für Entwicklungen, auf die man stolz sein kann, verwenden Sie das Wort »Sächsischer Weg«.

Noeske: Sachsen hatte bessere Startvoraussetzungen als andere Länder. Hier wurde Anfang der neunziger Jahre besonders effektiv, besonders fantasievoll regiert. Ich erinnere an den sächsischen Stolz darauf, eine konservative Finanzpolitik zu betreiben; einer der wesentlichen Erfolge der Landespolitik. Herr Tillich scheint den Begriff »Sächsischer Weg« nach der Lektüre meines Buches übernommen zu haben. In seiner jüngsten Regierungserklärung pries er den nämlich an. Da habe ich mich gefreut.

ZEIT: Der Ministerpräsident hat Ihr Buch schon gelesen?

Noeske: Ich weiß nur, dass die Bibliothek der Staatskanzlei ein Exemplar geordert hat. Neulich traf ich einen früheren Kollegen, der mir erzählte, wie viel Aufsehen mein Buch im Haus erregt habe.

ZEIT: Ist Ihnen bekannt, wer das eine Exemplar gerade liest?

Noeske: Mir ist bekannt, dass es eine Warteliste gibt. (lacht)

ZEIT: Ihr Buch legt den Eindruck nahe: Die neunziger Jahre waren die letzte wilde Zeit.

Noeske: Einmal hat eine Mitarbeiterin ihren Brief an mich mit »sozialistischem Gruß« unterschrieben. Ich war ein bisschen verunsichert: Meint die das jetzt ernst, oder was? Letztlich war das ein Mädel aus Chemnitz und völlig verstört, als wir es darauf ansprachen. Einfach ein Versehen. Es war eine wilde Zeit. Biedenkopf kann von Glück sagen, dass er eine solche Situation hatte. In Westdeutschland war er doch weg vom Fenster. Hier hatte er eine Situation, in der er all seine Stärken ausspielen konnte.

ZEIT: Die wilde Zeit ist vorbei. Muss man jetzt einfach die Landespolitik abschaffen?

Noeske: Man könnte die Aufgaben der Länder auf die Verwaltungsarbeit beschränken. Dann müssten sich die Leute nicht mehr vorkommen, als wären sie große Politiker. Sie sollen ordentlich verwalten – und gut. Fragen Sie mal Georg Milbradt: Er würde mir wohl jederzeit recht geben, wenn ich sage, dass der politische Spielraum auf der Länderebene viel kleiner ist, als immer behauptet wird.

ZEIT: Sie schreiben: Politik in Sachsen sei nur noch grauer Alltag.

Noeske: Aber auch ein grauer, trister Alltag kann wieder zu Ende gehen. Darauf hoffe ich.

Von: Martin Machowecz | Stefan Schirmer
Quelle: DIE ZEIT, 22.3.2012 Nr. 13
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