Karl Nolle, MdL
Leipziger Internet Zeitung, http://www.l-iz.de, 19.04.2012
Politisch motivierte Kriminalität in Sachsen 2011: Ein Innenminister interpretiert frei
Entweder will er es nicht lernen, oder er hat den "Big Brother Award" zu Recht bekommen. Die Meldung, die Sachsens Innenminister Markus Ulbig am Mittwoch, 18. April, in die Öffentlichkeit geben ließ, hatte es in sich. Sie ist ein Beispiel dafür, wie Gefahren an die Wand gemalt werden, die gar nicht existieren. Irgendwo muss der verflixte Linksextremismus ja herkommen.
"Die Gesamtanzahl der politisch motivierten Kriminalität lag im vergangenen Jahr über dem Vorjahresniveau. Dabei ist die Zahl linker Gewalttaten deutlich angestiegen", teilt das Innenministerium mit, nachdem Markus Ulbig in Dresden die Zahlen in einer Pressekonferenz in Dresden mitgeteilt hatte. "Maßgeblichen Einfluss auf diese Entwicklung hatten die gewalttätigen Auseinandersetzungen bei Demonstrationen im Februar 2011 in Dresden. Die Zahl rechtsmotivierter Straftaten blieb trotz des niedrigsten Wertes seit dem Jahr 2005 weiterhin auf hohem Niveau."
Hohes Niveau bei rechtsmotivierten Straftaten heißt: 1.693 registrierte Fälle. Im Vorjahr waren es 1.809 Fälle gewesen, größtenteils Propagandadelikte. Die Gesamtzahl der Fälle bei PMK links: 952, im Vorjahr 563.
Aber das Ministerium selbst weiß, wie man alles, aber auch alles dafür getan hat, diese Fälle zu bekommen. Die komplette Einsatzstrategie der Dresdner Polizei war bei den Februardemonstrationen 2011 darauf angelegt. Und so stellt das Ministerium auch fest: "Die Zahl linker Gewalttaten in Sachsen ist mit 206 Delikten im Vergleich zum Vorjahr erneut gestiegen. Insbesondere der deutliche Anstieg von 2010 zu 2011 ist maßgeblich auf das Demonstrationsgeschehen anlässlich des Jahrestages der Bombardierung von Dresden zurückzuführen. Noch nie ist in Sachsen seit Einführung des neuen Definitionssystems politisch motivierter Straftaten im Jahr 2001 eine so hohe Anzahl von Gewaltdelikten in einem Phänomenbereich registriert worden."
"Vor allem der zunehmende Hass gegen die Polizei und die Aggressivität der Täter wie Steinwürfe und Barrikadenbau sind Ausdruck einer beunruhigenden Tendenz des stetigen Anstiegs 'Politisch motivierte Kriminalität Links' in den letzten fünf Jahren", poltert Innenminister Markus Ulbig.
Was eigentlich nur zwei Schlüsse zulässt: Entweder weiß er nicht, was in Dresden im Februar 2011 tatsächlich passiert ist und wie ein auf Konfrontation angelegte Polizeikonzept erst die beträchtliche Fallzahl produziert hat, die jetzt in der Statistik steht. Oder er weiß es und malt ein falsches Bild. Dann aber zündelt er. Das ist eines demokratischen Politikers unwürdig. Die Einsatzstrategie im Februar 2012 hat gezeigt, dass eine Polizei, die ein Demonstrationsgeschehen ohne Pression und aggressives Vorgehen begleitet, auch ohne all die aufgeblasenen Fallzahlen den Einsatz beendet.
"Wie im Bereich der PMK Rechts ist das Gros der Tatverdächtigen 18 Jahre und älter. Hinsichtlich der Wohnort-Tatort-Beziehung, ließ sich feststellen, dass die Hälfte der Täter nicht aus Sachsen kam", tönt das völlig überforderte Innenministerium. Ohne auch nur nebenbei anzumerken, dass all diese Delikte, die da gesammelt wurden, sogenannte "Verstöße gegen das Versammlungsgesetz" waren und die "nicht aus Sachsen stammenden" zum Beispiel Politiker aus deutschen Landtagen und Gewerkschafter und ein Pfarrer waren, dem man auch nach gründlichster Durchsuchung keinen Verstoß gegen den Frieden der sächsischen Hauptstadt nachweisen konnte.
Man hat nur mit aller Macht friedliche Demonstranten kriminalisiert und dabei auch noch Daten gesammelt, die von Rechts wegen gar nicht gesammelt werden durften.
Das breitbrüstige Ministerium dazu: "Dies resultierte im wesentlichen aus der Tatsache, dass im Zusammenhang mit dem Demonstrationsgeschehen anlässlich des Jahrestages der Bombardierung von Dresden zahlreiche Personen von außerhalb anreisten und hier Straftaten begingen."
Entweder haben Ulbigs Beamte bis heute nicht begriffen, was sie da angestellt haben. Oder der Minister will's nicht begreifen.
Oder er verfolgt die seltsame Strategie der sächsischen Staatsregierung weiter, das jahrelange Wegducken bei rechten Straftaten mit dem Aufblasen eines gewalttätigen Linksextremismus zu konterkarieren.
"Trotz des erneuten Rückgangs der Fallzahlen im Vergleich zu den Vorjahren – niedrigster Wert seit 2005 – befindet sich die Anzahl rechtsmotivierter Straftaten weiterhin auf hohem Niveau", sagt Innenminister Markus Ulbig. "Das ist aber kein Grund zur Entwarnung. Unsere Maßnahmen zur Bekämpfung und Zurückdrängung des Rechtsextremismus greifen aber. Die Aufstockung der Soko Rex, der Einsatz von Mobilen Einsatz und Fahndungsgruppen und das Förderprogramm Weltoffenes Sachsen haben sich bewährt.“
Bei Betrachtung der Altersstruktur sei wie bereits in den Vorjahren erkennbar, dass das Gros der Straftaten von Erwachsenen und Heranwachsenden - ab dem 18. Lebensjahr aufwärts - begangen wurde. Kinder und Jugendliche traten eher weniger in Erscheinung. Und siehe da: Insbesondere bei den Mehrfachtätern zeigt sich anhand der wiederholten Tatbegehung, dass sie ihre Einstellung offenbar über Jahre nicht revidiert haben.
"Wie in den Vorjahren handelte die Masse der sächsischen Täter am Wohnort oder im Umfeld von ca. 20 Kilometern", stellt das Innenministerium zu den rechten Straftaten fest. Was dann signifikant den Unterschied macht: Rechtsradikale Kriminalität ist im ganzen Freistaat zu finden - am stärksten übrigens in Dresden und im Erzgebirge plus Chemnitz. Und würden nicht Tausende Demonstranten anreisen aus allen Himmelsrichtungen, um in Dresden jedes Jahr gegen die forsch marschierenden Nazis zu demonstrieren, der Innenminister hätte so seine Schwierigkeiten, den "Linksextremismus" als Schreckgespenst an die Wand zu malen.
Dass Ulbig sich die Zahlen zusammenschustert, wie er sie gern haben will, kritisiert auch Kerstin Köditz, Obfrau der Fraktion Die Linke im Innenausschuss des Sächsischen Landtags: "Die von Innenminister Ulbig vorgelegten Zahlen sind – gelinde gesagt – fragwürdig. Er wendet drei Methoden an, um einen Zuwachs der links motivierten Straftaten behaupten zu können. Zunächst wird das Demonstrationsgeschehen wie am 19.02.2011 in Dresden mit einbezogen, wo mit einer völlig verfehlten Polizeistrategie und deren zum Teil rechtswidrigen Maßnahmen sowie einer eigenwilligen Interpretation der Rechtslage Straftaten konstruiert wurden. Dann werden in einem zweiten Schritt eindeutig rechts motivierte Straftaten einfach unterschlagen. So wurden die sechs Angriffe auf mein Bürgerbüro in Grimma zwischen Juli 2011 und Februar 2012 zunächst nicht in die Statistik aufgenommen, obwohl in einem Fall sogar ein Hakenkreuz eingeritzt wurde. Erst auf meine Nachfrage wurden die Straftaten entsprechend eingeordnet."
Und das sind nicht die einzigen fragwürdigen Zahlen. Köditz: "Falls dies noch immer nicht ausreicht, wird zur besonders perfiden dritten Methode gegriffen. Von Neonazis begangene Straftaten werden Linken in die Schuhe geschoben. Dafür drei Beispiele aus dem Landkreis Mittelsachsen. Am 1. Oktober 2011 kam es in Burgstädt zu einem Angriff von ca. 20 Neonazis, darunter zwei ehemalige Mitglieder des 'Sturm 34' auf ein alternatives Wohnprojekt. Anfang November wurde eine als linksalternativ bekannte Frau in ihrem Auto in Lunzenau von rund zehn vermummten Personen angegriffen. Der Vorgang wiederholte sich wenige Tage später in Anwesenheit eines Kamerateams von Spiegel-TV und wurde dokumentiert. Alle drei Übergriffe wurden in die Statistik 'Politisch motivierte Kriminalität – links' einsortiert. Ich kann für den Freistaat Sachsen und die hier lebenden Menschen nur hoffen, dass Innenminister Ulbig die von ihm präsentierten Zahlen nicht selbst glaubt. Sonst wäre das Problem noch größer, als es ohnehin bereits ist."
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Ralf Julke
http://www.l-iz.de