Karl Nolle, MdL
Der Spiegel 17/2012, S.44, 22.04.2012
Rechtsterrorismus: Spur 195 ins Neonazi-Milieu - Hätten die Behörden die „Ceska“- Mörder früher fassen können?
Schon 2007 hatte die Polizei eine mutmaßliche NSU-Unterstützerin im Visier – ohne es zu wissen.
Im Frühjahr 2006 entstand bei bayerischen Fallanalytikern plötzlich ein neues Bild über die Hintergründe der neun sogenannten Ceska-Morde. Bis dahin hatte die Soko „Bosporus“ im Umfeld der überwiegend türkischstämmigen Opfer im Nebel gestochert. Sie hatte nach Verbindungen untereinander und zur Organisierten Kriminalität gesucht, ergebnislos. Dann präsentierten die Profiler aus München Anfang Mai ihre Analyse.
Es war eine radikal neue Theorie. Die Mörder seien vermutlich Einzeltäter, die überregional operierten. Als Motiv vermuteten die psychologischen Experten „eine ablehnende Haltung gegenüber Aus-ländern, speziell Türken“. Die Fallanalytiker empfahlen, in der rechtsextremen Szene im Raum Nürnberg nach Tätern zu suchen, die gut mit Waffen umgehen könnten.
Mit Nürnberg lagen sie zwar falsch. Ansonsten aber kamen die Profiler den tatsächlichen Killern des „Nationalsozialis-tischen Untergrunds“ (NSU), Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, weit näher als andere Fahnder. Die Soko „Bosporus“ nannte die Ermittlungen zu rechtsextremen Tätern „Spur 195“. Die Fahnder hatten dabei sogar Mandy S. im Visier, jene Frau, die heute als wichtige Unterstützerin des NSU beschuldigt wird. Sie hätte die Polizei womöglich auf die Fährte der Terroristen bringen können, vielleicht noch vor dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter.
Doch dann ging „Spur 195“ im Dickicht der übri-gen Ermittlungsansätze unter. Die Behörden un-terschätzten die Bedeutung dieser Fahndungs-richtung, offenbar verfolg-ten sie manche Hinweise nur oberflächlich weiter und brachten deshalb nicht die Informationen zusammen, die sie auf die Spur der Mörder hätten führen können.
Dieses Versäumnis ist eine weitere Facette des kollektiven Scheiterns der Sicherheitsbehörden, die den tödlichen Hass nicht als Rechtsterrorismus erkannten.
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Eva Högl spricht mittlerweile von einem „klaren Versagen der bayerischen Ermittlungsbehörden“. Högl gehört dem Bundes tagsuntersuchungsausschuss an, der die Pannenserie bei der Fahndung nach den Neonazis aufklären soll. Die „Kommunikation der Dienststellen untereinander hat nicht funktioniert“, kritisiert sie.
Tatsächlich hakte es im weiß-blauen Amtsverkehr offenbar gewaltig – vor allem zwischen Polizei und Verfassungsschutz. Die Soko „Bosporus“ hatte den Kreis der Rechtsextremisten zunächst ein-gegrenzt und im Juli 2006 das bayerische Landesamt für Verfassungsschutz um Daten von Neonazis gebeten, die zum Täterprofil passten.
Erst acht Monate später schickten die Geheimen die gewünschte Liste: 13 eng beschriebene Seiten mit den Personalien von 682 Männern und Frauen, alle zwischen 1960 und 1982 geboren, alle als „Mitglieder des organisierten oder unorganisierten Rechtsextremismus“ eingestuft und mit „Adressbeziehung“ zum Großraum Nürnberg, wo drei der zehn Morde des NSU begangen wurden.
Nummer 602 der Verfassungsschutzliste ist Mandy S., 36, Friseurin aus Sachsen, ihr Name steht auf der vorletzten Seite.
Heute gilt S. als wichtige Helferin der Zwickauer Zelle und wird von der Bun-desanwaltschaft der „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ beschuldigt. In mehreren Vernehmungen hat S. inzwischen zugegeben, Mundlos, Böhnhardt und deren Komplizin Beate Zschäpe geholfen zu haben. 1998 besorgte sie dem Trio einen Unterschlupf in der Wohnung ihres damaligen Freundes in Chemnitz.
S. hatte zudem Kontakte in die rechte Szene in Franken, das sagte sie selbst aus. Von Juli 2002 bis März 2003 war sie in Büchenbach gemeldet, 30 Kilometer süd-lich von Nürnberg. Außerdem engagierte sie sich den Ermittlungen zufolge für die inzwischen verbotene „Hilfsgemeinschaft für nationale politische Gefangene“, verteilte rechtsradikale Flugblätter in Nürnberg und schrieb Artikel für die Neonazi-Postille „Landser“.
Heute behauptet Mandy S., sie habe mit der rechtsextremen Szene längst gebrochen. Doch 2007 hätten die Fahnder über sie womöglich den NSU finden können. Als der bayerische Verfassungsschutz die Personalien von S. an die Polizei übermittelte, hatte die Zelle bereits neun Einwanderer getötet. Der zehnte und nach bisherigem Ermittlungsstand letzte Mord der Terroristen ereignete sich zwei Monate später. In Heilbronn erschoss der NSU die Polizistin Michèle Kiesewetter und verletzte deren Kollegen Martin A. lebensgefährlich.
In ihren Vernehmungen beteuert Mandy S., nichts von den Morden ihrer einstigen Neonazi-Kameraden gewusst zu haben. Doch ihre Verbindung zu dem abgetauchten Trio hätte die Fahnder trotzdem einen wichtigen Schritt nach vorn bringen können: Beate Zschäpe nutzte die Personalien von Mandy S. als Tarnidentität; im letzten Unterschlupf des NSU fanden sich mehrere Dokumente mit dem Namen Mandy S., darunter der gefälschte Ausweis eines Tennisclubs und Katzen-Impfpässe.
All das konnten die Ermittler der Soko „Bosporus“ 2007 nicht wissen – der bayerische Verfassungsschutz hatte damals lediglich Namen und Geburtsdatum von Mandy S. geliefert. Mehr über die Rechtsextremistin hätten die Münchner Nachrichtendienstler bei ihren eigenen Kollegen erfahren können. Beim sächsischen Landesamt für Verfassungsschutz war Mandy S. bereits seit 1997 als Rechts - extremistin erfasst, beim Bundesamt seit 2006.
Vor allem hätte ein Informationsabgleich ihre brisanten Verbindungen sichtbar machen können: Spätestens seit 2000 kannten das Erfurter Landeskriminalamt sowie der thüringische und der sächsische Verfassungsschutz Mandy S. als mutmaßliche „Kontaktperson“ des untergetauchten Neonazi-Trios. Im Mai 2000 hatten die Sachsen deswegen das Telefon von Mandy S. angezapft und im Herbst sogar ihre damalige Wohnung in der Chemnitzer Bernhardstraße observiert, jedoch ohne die per Haftbefehl Gesuchten festnehmen zu können.
Die Beziehung von Mandy S. zu drei untergetauchten, rechtsextremen Bombenbastlern hätte die Mordermittler der Soko „Bosporus“ mit großer Wahrscheinlichkeit aufhorchen lassen: Das Trio galt schon vor seiner Flucht als militant, in einer von den Neonazis gemieteten Garage fanden sich TNT, Bombenbau-Utensilien sowie ein Schriftstück, in dem Türken der Tod gewünscht wurde.
Doch die Soko erfuhr davon nichts: Während die Polizei davon ausging, dass das Landesamt den Informationsabgleich mit den anderen Verfassungsschutz behörden übernehmen würde, glaubte der bayerische Verfassungsschutz, dass dies die Polizei erledigen würde. Am Ende wurden nur 161 der 682 Rechtsextremisten, die auf der Verfassungsschutzliste standen, von der Kripo überprüft – ob auch Mandy S. darunter war, ist unklar.
Am 9. Januar 2008 legten die Fahnder „Spur 195“ zu den Akten. In einem „vorläufigen Abschlussbericht“ resümierte die Soko „Bosporus“: „Ein in der rechten Szene Nürnbergs liegender Anlass für die Mordserie konnte unter dem Strich nicht sichtbar gemacht werden.“
Hubert Gude, Sven Röbel, Steffen Winter