Karl Nolle, MdL
Süddeutsche Zeitung, 27.04.2012
"Die NSU-Morde sind unser 11. September"
Großkonflikt unter Fahndern, Ahnungslosigkeit bei den Ermittlern: Unzählige Staatsanwaltschaften und Polizisten ermittelten im Fall des Nationalsozialistischen Untergrunds - nie kamen sie auch nur in die Nähe einer Lösung. Jetzt beschäftigt sich ein Untersuchungsausschuss im Bundestag mit diesem Versagen. Er tut sich schwer, das offenkundige Versagen zu erklären.
Mitunter hilft es ja, wenn man sich eine Liste macht, um Dinge besser zu verstehen. Tabellen können die Welt übersichtlicher machen, sie gliedern, Ordnung schaffen. Die ratlosen Ermittler, die sich seit Jahren mit den ungelösten Ceska-Morden beschäftigten, deren Opfer zumeist türkische Kleingewerbetreibende waren, machten nach all den Fehlschlägen eine Tabelle mit den Namen der Opfer und den "Konfliktfeldern", die sich möglicherweise hinter den Hinrichtungen verbargen.
In die Spalten schrieben sie: "Geschäft illegal", "Politik", "Glücksspiel", "Frauen", "Betäubungsmittel", "Nähe zu problematischen Personen", "Streit/Bedrohung". Sie machten Kreuze, Striche, Fragezeichen. Und als sie damit fertig waren, hatten sie selbst nur noch mehr Fragen und keinen Durchblick - und dabei ist es geblieben.
Mit dem großen Versagen der Sicherheitsbehörden beschäftigt sich seit Donnerstag ein Untersuchungsausschuss im Bundestag. Er soll herausfinden, warum in Deutschland die Terrorvereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) nie im Blick der Staatsschützer war. Wie konnte es passieren, dass die Mörder des NSU von 2000 bis 2007 zehn Menschen umbrachten und dass sie trotz einiger Auffälligkeiten nicht einmal in die Nähe einer Fahndung gerieten?
"Die NSU-Morde sind unser 11. September", hat der Karlsruher Generalbundesanwalt Harald Range erklärt. Der Begriff steht in den USA für Pech und Unvermögen vor den Terroranschlägen 2001 - und für die Unfähigkeit der Behörden, miteinander zu arbeiten. Sicherheitsapparate, die ein Land beschützen sollen, können in einer Parallelwelt leben und deswegen kläglich versagen.
Föderalismus, Bürokratie und partielle Blindheit der Staatsschützer
Ausschüsse in Parlamenten suchen oft nach persönlicher Schuld. Und an schnellen Urteilen und Vorverurteilungen hat es ja nicht gefehlt, seitdem die Republik im November 2011 erfahren hat, was der NSU ist. Die mutmaßlichen Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos hatten sich damals umgebracht. Über die Kumpanei des Staats mit Mördern wurde spekuliert; es kam sogar der Verdacht auf, es könne sich hier um eine braune Staatsaffäre handeln.
Jetzt liegen den Abgeordneten Hunderte Ordner über die Arbeit der Polizei vor, mindestens ebenso viele Ordner werden noch kommen, und mit jedem neuen Dokument wird das Bild komplizierter. "Die Fahnder haben eine unglaublich aufwendige Arbeit geleistet", sagt die Juristin Eva Högl, die im Ausschuss die SPD vertritt. Das Parlamentsgremium, das mit der Erkundung einer riesigen dunklen Höhle begonnen hat und dabei immer neue Gänge entdeckt, muss klären, warum der riesige Aufwand in totalem Widerspruch zu dem kläglichen Ergebnis steht. Die gängigen Stichworte zur Erklärung des offenkundigen Staatsversagens heißen: Föderalismus, Bürokratie und partielle Blindheit der Staatsschützer auf dem rechten Auge.
Es ist noch komplizierter. Die gescheiterten Fahnder hielten ihren Fall nicht, wie manche behaupten, für einen Allerweltsfall, sondern für "einen einmaligen Kriminalfall", wie sie schrieben. Sie tüftelten Sprechzettel aus, um die Lage bei Sitzungen im Kanzleramt ordentlich vortragen zu können. Nur: Das Meiste auf den Sprechzetteln war leider falsch.
Türkenhasser, die den Thrill lieben
Viele Staatsanwaltschaften, viele Polizeibehörden ermittelten, eine gemeinsame Steuerungsgruppe sollte steuern - doch es entstand, je länger die Erfolglosigkeit dauerte, nur ein Großkonflikt unter Fahndern. Die Beamten vom Hamburger Landeskriminalamt, die einen der Mordfälle bearbeiteten und in ihrer Analyse immer danebenlagen, kämpften gegen die Bayern, die sechs Morde aufklären sollten. Die Hessen hielten vor allem das Bundeskriminalamt auf Abstand, das sich dann 2010 demonstrativ wegen der Streitereien von den turnusmäßigen Besprechungen der Steuerungsgruppe zurückzog. Die Profiler, die ohnehin in der Branche keinen leichten Stand haben, weil Fallanalyse aus Sicht der Traditionalisten Glaubenssache ist, waren sich uneins. Experten, die allesamt unrecht hatten, stritten sich mit Experten, die auch nicht durchblickten.
Die allermeisten Ämter waren sich bis zum Schluss merkwürdigerweise sicher, dass die Morde irgendetwas mit organisierter Kriminalität, Drogenhandel, Schulden oder türkischen Verhältnissen zu tun haben mussten. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass viele OK-Spezialisten eingeschaltet waren. Jeder sah, was er schon immer gesehen hatte.
"Gerade die bisherige kriminelle Unauffälligkeit der Opfer" könne auffällig sein, schrieb ein BKA-Beamter in einer Synopse. Weil die allermeisten Opfer nicht kriminell aufgefallen seien, könnten sie "für die illegalen Tätigkeiten einer OK-Gruppierung von Nutzen" gewesen sein. Wer nicht kriminell ist, macht sich nach dieser Logik besonders verdächtig.
Rechtsradikale im Visier der bayerische Profiler
Es gab die Verfechter der "Organisationstheorie", sie ordneten die Taten einem Verbrechersyndikat zu. Dem standen von 2006 an die Anhänger der "Einzeltätertheorie" gegenüber; dies waren bayerische Profiler, die eine Alternative zu den Wegen ins Nichts finden sollten. Ihnen fiel auf, dass die Täter Türkenhasser aus der rechten Szene sein könnten. Aber auch die Münchner lagen nicht ganz richtig. Sie vermuteten - wegen bestimmter Tatortkenntnisse der Mörder -, dass die Täter aus Nürnberg stammten. Die rechtsradikale Szene in Nürnberg wurde durchleuchtet, aber die "Spur 195" führte auch nirgendwo hin. Erstaunlich zögerlich war der bayerische Verfassungsschutz bei der Herausgabe von Daten.
In den Akten findet sich der Bericht einer FBI-Delegation, die sich 2007 aus eigenem Interesse mit den Ceska-Morden beschäftigte. Die Leute vom FBI schrieben, was das FBI von daheim kennt: Rassistische Morde sind in den USA verbreitet. Man solle nach einem Türkenhasser suchen, der den Thrill liebe, lautete die Empfehlung.
Ernsthaft hatte nie jemand die rechte Szene im Blick. Dafür gibt es strukturelle Gründe, aber auch Gründe, die mit dem Terror-Trio zu tun haben, das keine Bekennerschreiben hinterließ und keine Propaganda machte. Auf eine rechtsradikale Terror-Organisation war hierzulande niemand vorbereitet. Das ist ein bisschen wie beim 11. September, als Geheimdienstler nicht erkannt hatten, wie gefährlich al-Qaida geworden war.
Für den Ausschuss wird es nicht einfach sein, aus alledem Schlüsse für neue Strukturen zu ziehen. Die aber braucht das Land. "Es wird Zeit, dass wir der Schweinerei jetzt mal ein Ende bereiten", hat im April 2006 ein Münchner Beamter an das BKA geschrieben.
Von Hans Leyendecker, John Goetz und Nicolas Richter